Der wilde Elefant

Beim stundenlangen Radfahren sieht man vieles am Straßenrand und am Horizont, und man ist aufmerksam, und dann atmet man regelmäßig und denkt auch … denkt herum, an die gegenwärtige Lage, an das,, was war und wie es ist, und es fällt einem schwer, nur da zu sein, wo man ist. Oft ist man in seinen eigenen Räumen. Wie sehwer es doch fällt, gedanklich nicht abzuschweifen!

Eine Mahayana-Geschichte heißt

Der wilde Elefant

Ich muss meinen Geist sehr sorgfältig kontrollieren, damit er nicht wandert. Ein wilder Elefant, der im Dschungel umherschweift, richtet nicht so viel Zerstörung an wie ein umherwandernder Geist. Wenn der wilde Elefant gezähmt werden kann, hört die Verwüstung auf, und analog dazu muss ich meinen Geist zähmen.
Jede Angst und jede Form des Leidens dringen aus dem innersten Geist hervor. Es ist der Geist, der sich die Höllenqualen ausmalt. Es ist der Geist, der das glühende Eisen erfindet und jedes andere Folterinstrument. Jede böse Sache rührt von einem geistig Bösen her; nichts ist gefährlich außer dem Geist.
Perfekte Großzügigkeit würde eine Welt ohne Armut entstehen lassen. Armut gibt es darum, weil der Geist der Menschen niedrig ist. Perfekte Großzügigkeit gäbe es, wenn die Menschen aufhören würden, irgendetwas als ihr Eigentum zu betrachten. Armut tritt also auf, weil sich die Menschen als Besitzende betrachten.
Perfekte Güte würde eine Welt ohne Töten entstehen lassen. Wenn Menschen ethisch gut wären, müssten die Tiere und Fische keine Angst vor deren Waffen haben. Das Töten gibt es, weil der Geist der Menschen unmoralisch ist. Wenn die Unmoral getötet werden könnte, würde das Töten aufhören.
Ich kann Ereignisse in der Außenwelt nicht kontrollieren, aber ich kann meinen Geist kontrollieren. Wenn mein Geist unter meiner Kontrolle ist, werde ich frei von Leiden sein — und daher werde ich keinen Grund mehr haben, mich zu fürchten.

 

Dahinter steckt der buddhistische Gedanke der Egolosigkeit, der Befreiung von der Außenwelt. Der Erleuchtete sei ohne passion und ohne compassion, las ich. Konsequent: keinen Leidenschaften nachgehen, kein Mitleid empfinden. Aber so unmenschlich fern will man auch nicht sein. Doch das Ziel der Betrachtung, der Versenkung it erstrebenswert: den Geist kontrollieren.

Nach einem anstrengenden Nachmittag im Altenheim komme ich um acht Uhr abends nach Hause. Ich bin geistig erschöpft und leer. Dies ist ein köstlicher Zustand — wie auch, etwas weniger köstlich (da der Körper schmerzt), der Abend nach einer zehnstündigen Radtour. Nach dem Altenheim denke ich nichts. Die Dinge sind da, ich hefte meinen Blick auf einen Lichtreflex, auf ein zitterndes Blatt, einen Schattenriss und denke nicht.

Da fällt mir gerade ein, wie heute Abend eine 96-jährige Frau (die hagere Malerin aus Berlin), die den ganzen Tag den Flur auf und ab wandert, auf einem Stuhl saß und die Sonne ihr Gesicht beleuchtete. Ich war entzückt, und sie breitete die Arme aus und rief: »Ich bin da!« So ungefähr. Besser hätte es auch Buddha nicht ausdrücken können. Ich bin.

Man möchte in diesem Zustand verharren. So betrachten Mönche die Welt, in die Anbetung und die Betrachtung versunken, denn jedes Detail spricht vom Ganzen, dem Urgrund (oder brahman, Allah, Gott). Es müsste das Ziel sein, diesen Zustand auszudehnen und Tage oder Monate dauern zu lassen, dann käme man vermutlich der Erleuchtung nahe.

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