Amo, ergo sum

Es gab viele Physiker des vergangenen Jahrhunderts, die über den Tellerrand ihres Fachs hinausblickten. Wer Quantenphysik betrieb, war gezwungen, sein Weltbild in Frage zu stellen (so meint man; viele ihnorierten indessen lässig die Folgerungen). Ein paar wagten sich auch hinaus in den Raum der Ethik: Nennen wir Erwin Schrödinger, Albert Einstein und Wolfgang Pauli. Und der beschäftigt mich heute. Er hat die Liebe erwähnt!

Pauli lebte von 1900 bis 1958 und war 30 Jahre an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich als Professor tätig. Über ihn schrieb im Jahr 2000 Ernst Peter Fischer das Buch An den Grenzen des Denkens. Zu Beginn beklagt er sich, dass so wenige das Genie Pauli kennen, der die Quantenphysik 1923 in neue Bahnen lenkte. Einstein, Einstein und immer nur Einstein! Das wird in den vergangenen Jahren noch schlimmer geworden sein. Altes wird wiedergekäut bis zum Erbrechen. Man kann nichts gegen Einstein sagen, aber irgendwie wird das Große erstickend groß, weil alle dem mainstream folgen. Neues fehlt, und so drehen wir uns unterhaltsam im Kreis.

Pauli hat das Ausschließungsprinzip begründet, das Neutrino postuliert und die vierte Quantenzahl erklärt, was ihm 1945 den Physik-Nobelpreis einbrachte. Obendrein und sehr ungewöhnlich: Er diskutierte Jahrzehnte brieflich mit Carl Gustav Jung, machte sich Gedanken über das Unbewusste und die Alchemie. Der Wiener Pauli war ein besessener Briefeschreiber; 5000 eigenhändig mit der Feder beschriebene Seiten sind erhalten. Auch die Liebe führt er in einer kurzen Briefstelle ein:

Es gab kindische unbewusste Leute, die sagten, ›Im Anfang war das Wort‹ und ›cogito, ergo sum‹, aber am Anfang waren natürlich die Emotionen, sonst wären die Worte nie erfunden worden und ›amo, ergo sum‹, sonst wären die Denker nie geboren worden.

Dieses amo, ergo sum bedeutet: Ich liebe, also bin ich. Das vorher zitierte cogito, ergo sum stammt von René Descartes (1596-1650). Er teilte uns auf in die ausgedehnte Substanz (Materie, den Körper) und die denkende Substanz (das Bewusstsein), das uns vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. Weil ich bewusst bin, weiß ich, dass ich bin.

Doch könnte ich nicht sprechen, wüsste ich das auch. Alfred Korzybski hat in Science and Sanity geschrieben:

Die Sinne: kommen zuerst, und als nächstes der Geist. Die natürliche Ordnung war: Empfindung zuerst, Ideen als nächstes.

Wir leben auf der objektiven oder niedrigen Abstraktionsebene, auf der wir sehen, fühlen, berühren, auftreten müssen, aber sprechen nicht.  

Mehr habe ich in meinem Beitrag Im Anfang: das Wort Anfang 2020 dargelegt. Mit dem Wort übersetzte Luther den logos, der viel mehr ist. Was nichts daran ändert, dass der Geist oder der Sinn ein Motiv braucht: eine Emotion. Luther wollte aufklärerisch wirken, Descartes war für eine rationale Wissenschaft, und wir könnten sagen: Das Wort ist Technik, ist ein Begriff aus dem Ingenieurwesen (wenn es automatenhaft geäußert wird).

Der Physiker Wolfgang Pauli stellte vier Gegensatzpaare auf, wobei die linke Hälfte für unsere kalte technische Welt steht:

Bewusstsein — Unbewusstes
Denken — Fühlen
Vernunft — Instinkt 
Logos — Eros.

Und dann noch: Die von einer Nahtod-Erfahrung zurückkamen, berichten von der unendlichen Liebe, die sie empfing, dem totalen Akzeptiertsein. Da wurde nicht gesprochen und nichts erklärt. Das muss die uranfängliche Emotion sein, mit der das Universum erschaffen wurde, und wir spüren sie nur nicht, weil unsere Seele in unserem Körper steckt wie der Autofahrer in seinem Auto. Wenn wir hinausschweben, tauchen wir ein. Die Liebe ist es.

 

 

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