Flugverkehr (127): Hier und heute

Eigentlich gibt es nur verschwindend wenige gute Bücher. Wenn man im Altenheim etwas vorlesen möchte, merkt man das. Was würde man gern zu einem Geburtstag mitbringen, als lesbares Lebenshilfe-Buch? Eines gefällt mir sehr gut, und die Zeit hat ihm wenig anhaben können. Für Frauen über 50 perfekt ist Muscheln in meiner Hand von Anne Morrow Lindbergh (1906-2001), einer Pilotin.  

service-pnp-ds-02000-02095_150pxDas hat die Frau des Flugpioniers 1955 geschrieben. Sie lebte in New York, hatte fünf Kinder zu versorgen, und irgendwann ergab sich für sie die Möglichkeit, zwei Wochen Urlaub alleine auf einer einsamen Insel zu machen. Anne Lindbergh ging viel spazieren, las Muscheln auf und begann plötzlich zu schreiben; sie ordnete ihre Gedanken und legte sie dann in einfacher Sprache vor: die Rolle der Frau, die Familie, Beziehungen, die Komplexität des Lebens, die Anforderungen. Eine wunderbare Lektüre. Die Autorin hat Herz und Verstand.

OIP.g8jznDAXG8sLhjAbyQODEwHaGLIch lernte bei Wikipedia, dass Anne Morrow Lindbergh 1929 ihren ersten Alleinflug absolvierte und 1930 als erste Frau in den USA den Flugschein erwarb. Als Kopilotin, Navigatorin und Funkerin begleitete sie ihren Mann auf seinen Flügen, und 1933 schafften sie als erste die Nord- und die Süd-Atlantikroute. Lindbergh, 1902 geboren, starb 1974.

In meiner Piper-Ausgabe von 1989 hat der Verlag auf die Rückseite des Titels ein Zitat gedruckt, das damals wahr war und heute noch mehr, wenn das überhaupt geht. 1989 war das Internet noch nicht richtig da und Smartphone gab es nicht, und der Konsumismus brannte noch auf Sparflamme. Anne Morrow Lindbergh schrieb da:

Wenn wir uns die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, sind dann nicht die wahren Opfer im heutigen Leben eben diese Zentren, über die ich gesprochen habe: das Hier, das Heute, das Individuum und seine Beziehungen. Das Heute lässt man am Weg stehen bei der Jagd nach dem Morgen, das Hier wird zugunsten des Dort vernachlässigt und das Individuum verschwindet in der Masse.

Auffallend richtig: Bei Internet und Smartphone ist die Vergangenheit ausgelöscht, es geht nur um die Zukunft; man stiert ins Gerät und konferiert mit dem Dort, wobei man sich vom Hier abwendet; und überall wird die Individualität des Konsumenten hervorgehoben, der mit Produkten bombardiert wird und sich letztlich vom Nebenmenschen nur durch leicht abweichende Kleider, Speisen und Fahrzeuge unterscheidet, denn das Denken ist konform geworden und banal. Was 1955 schon zu beobachten war, hat sich fortgesetzt bis hin zur Entfremdung von Natur und Welt und Gott. Anne Lindbergh hat 13 Bücher geschrieben, viele über das Fliegen und ihre Unternehmungen.

Muscheln in meiner Hand hieß im Original A Gift From the Sea (Ein Geschenk des Meeres), und wurde eine Million Mal verkauft. Anne Lindbergh hat viel nachgedacht und äußert sich zu ihrem inneren Ziel:

Aber zuerst will ich — und das ist das eigentliche Ziel all dieser anderen Wünsche — im Einklang mit mir selbst sein. Ich wünsche eine eindeutige Sicht, Reinheit meiner Absichten, einen festen Mittelpunkt für mein Leben, die es mir ermöglichen, jene Verpflichtungen und Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen. Ich wünsche — um es durch einen theologischen Begriff auszudrücken —, »im Stand der Gnade« zu leben, soweit mir das überhaupt möglich ist. … Unter Gnade verstehe ich eine innere, im wesentlichen spirituelle Harmonie, die sich auch durch äußere Harmonie auszudrücken vermag. … Ich will einen Zustand der Gnade erreichen, aus dem heraus ich so sein und handeln kann, wie ich in der Vorstellung Gottes sein und handeln sollte.  

 

Illustrationen: oben ein Portrait von Underwood & Underwood 1929; darunter rechts ein Bild der Pilotin unbekannter Herkunft.

 

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