Das Denk-Kollektiv

Standesbewusst, finanziell orientiert, imagebesessen … Männer haben immer so viel zu verlieren. Darum schweigen sie und machen mit. Die Männer beherrschen auch die berufsständischen Organisationen (die der Anwälte, Ärzte, Psychologen) sowie die Wissenschaft und die Kirche. Die Wissenschaft darf man getrost als Sekte bezeichnen, die alles abwehrt, was nicht zu ihren Leitlinien passt, und jemand hat erklärt, warum das so ist …

R.b57d32fbcfda2e1129622f160021fe5eDieser Jemand heißt Ludwik Fleck und hat schon 1935 den Denkstil und das Denkkollektiv eingeführt. Er war 1896 in Lemberg in Galizien geboren und arbeitete als Mikrobiologe in Warschau. Im Krieg wurde er ins Lemberger Ghetto und dann mit seiner Familie nach Auschwitz geschickt, wo er schließlich in den Labors an einem Impfstoff gegen das Fleckfieber forschte, an dem er auch erkrankte; der Name der Krankheit hat nichts mit seinem Familiennamen zu tun, das war die Ironie des Lebens. Nach dem Krieg war er Professor in Polen und emigrierte 1957 nach Israel, wo er 1961 atarb. An der ETH (Eidgenössische Technische Hochschule) Zürich gibt es ein Ludwik-Fleck-Zentrum.

Ein Passus aus einer jüngst veröffentlichten Dokorarbeit:

Er fragt, welchen »sozialen Momenten« eine sich weiterentwickelnde Wissenschaft ausgesetzt ist und welchen Überprägungen durch die Gesellschaft und durch Überlieferung sie unterliegt. Dabei führte er die Begriffe »Denkstil« und Denkkollektiv ein — den Denk-Stil als den intellektuellen Rahmen, innerhalb dessen die Erkenntnis anwächst,  und das Denk-Kollektiv als die soziale Gruppe, die den Denkstil artikuliert, überliefert und fortschreibt.
Es ist dies der Leitgedanke Flecks und in seinen Augen eine »simple Wahrheit, dass unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen«. Die Folge sei oftmals ein Weiterbauen auf einem ungeprüften Fundament …

… das man nicht in Frage stellt, weil man nicht ausgestoßen werden möchte. Der soziale Tod schien auch vielen Angehörigen alter Kulturen  schlimmer als der reale Tod. Wir wissen mehr aus dem Erlernten denn aus dem Erkannten, denn wenn das Erkannte dem Erlernten widerspricht, ignorieren wir es. Die Parapsychologie hat auch erst allmählch gelernt, dass es der Wissenschft leicht fällt, nicht passende Fakten unter den Tisch fallen zu lassen oder gar nicht anzuschauen.

Der Denkstil gibt den Rahmen vor, »innerhalb dessen die Erkenntnis anwächst« … das heißt übersetzt: Nur das wird akzeptiert, was der gängigen Ansicht nicht widerspricht. Das kann man ruhig Meinungsdiktatur nennen. Alle stecken unter einer Decke, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, Ärzte halten zusammen und Politiker auch, da werden abweichende Meinungen nicht toleriert, und man schafft es sogar, nicht genehme Fakten zu übersehen und auszublenden.

Auch im Jornalismus sind alle gut sozialisiert, sprich: dressiert. Die »Schere im Kopf« nannte man das früher, als das Layout noch auf Papier gemalt wurde. Heute müsste man sagen: der Delete-Knopf im Hirn. Man weiß, was man schreiben kann; man ist so frei, bis an die Grenze zu gehen, aber darüber hinaus darf man nicht.

Thomas S. Kuhn hat in seinem wegweisenden Buch über wissenschaftliche Revolutionen 1961 geschrieben, dass manchmal jedoch das Kollektiv sich beugen müsse. Die Ergebnisse der Quantenmechanik brachen in das alte Weltbild ein, weil sie stichhaltig waren, wenngleich ungeliebt, undalles geriet ins Wanken. Doch der Physik ist es tatsächlich gelungen, in den fast 100 Jahren seit der Quanten-Revolution deren Ergebnisse auf ein Abstellgleis zu schieben und an anderen irrelevanten Problemen weiterzudenken, die weniger riskant waren, und das könnte man unbewusste Manipulation nennen. Das Denkkollektiv macht alles um es herum platt. Das wirklich Neue wird meist von Außenseitern gefunden.

 

Zitat aus: Helmut Krämer: Spektrum der Zuversicht, Wien, Köln, Weimar: 2021, S. 205

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