Der Buchhalter

November. Da darf es schon mal ein Toter mehr sein, und sogar der patente, humorvolle Erich Kästner hat das Thema der Geister angeschnitten. Man merkt, dass er es widerwillig tut, aber es tun muss, weil er fasziniert ist.

Da fällt mir W. G. Sebald (1944-2001) ein, den ich wie viele verehre und viel zu selten zitiere. Ich suchte die Stelle aus der Reise-Erzählung Campo Santo heraus, wo er schreibt:

Und seit einiger Zeit weiß ich auch: Je mehr einer, aus was für einem Grund auch immer, zu tragen hat an der der menschlichen Art wahrscheinlich nicht umsonst aufgebürdeten Trauerlast, desto öfter begegnen ihm Gespenster. Auf dem Graben in Wien, in der Londoner U-Bahn, auf einem Empfang, zu dem der Botschafter von Mexiko geladen hat, bei einem Schleusenhäuschen am Ludwigskanal in Bamberg, einmal da und einmal dort trifft man, ohne dass man es sich versieht, auf eines dieser irgendwie undeutlichen und unpassenden Wesen, an denen mir immer auffällt, dass sie ein wenig zu klein geraten und kurzsichtig sind, etwas eigenartig Abwartendes und Lauerndes an sich haben und auf ihren Gesichtern den Ausdruck tragen eines uns gramen Geschlechts.

Mal schauen, wie der Geist bei Kästner sich gibt.

Begegnung in einer kleinen Stadt

DSCN0519Neulich traf ich in einer entlegenen Stadt
einen alten Bekannten, den Buchhalter Roth,
der sich im vorigen Sommer erschossen hat.
Und ich rief erschrocken: »Sie sind doch längst tot!«

Scheinbar dachte er von dem Wunder gering.
Und als ob das um vieles seltsamer wär,
fragte er, während ich zaudernd neben ihm ging:
»Also bitte, wie kommen denn Sie hierher?«

Mich ergriff das ungewohnte Erlebnis.
Darum sagte ich nichts auf die kleinliche Frage,
sondern meinte: »Ich war doch zu Ihrem Begräbnis!«
Man begegnet Toten nicht alle Tage.

Warum lag er nicht, wie sich’s gehörte, im Grabe?
Wo führt das hin, wenn der Tod seine Wirkung verliert?
Buchhalter Roth erklärte lächelnd, er habe
seinen Selbstmord gewissermaßen storniert.

Und nun sei er genau wie einst auf der Welt.
Das sei kein Leben, das lästige Liegen im Sarg.
Er sei hier bei einer Firma fest angestellt
und verdiene im Monat dreihundert Mark.

Ob sein Zustand im Dienst schon bemerkt worden sei,
fragte ich; schließlich sei er doch eine Leiche.
Aber er meinte, man fände hier gar nichts dabei.
Und er leiste, an früher gemessen, das Gleiche.

breslauMöglich, dass er das komisch fand, denn er lachte.
Schaurig genug klang das, denn die Stadt war leer.
Ich erschrak darüber so sehr, dass ich dachte:
Tote Buchhalter sind eben doch kein Verkehr.

Eigentlich wollte ich ihn noch Verschiedenes fragen.
Aber da zog er hastig den Hut und sprach:
»Und ersuche Sie, es nicht weiterzusagen!«
Und er ging. Ich sah ihm noch lange nach.

Wenn wir annehmen, dass der Erzähler es ist, der dem vermeintlichen Geist in der Astralwelt erscheint, dann lösen sich alle Rätsel auf. Vielleicht ist er im Schlaf in die leere Duplikat-Stadt geraten und traf den Buchhalter, den er kannte. Wer eine Astralreise unternimmt, hat solche Begegnungen, vielleicht auch in einer kleinen Stadt, und sie scheinen ganz natürlich wie alle Berichte von Nahtod-Erfahrungen.

Unterhaltungen mit Geistern sind selten, doch ich denke da an das denkwürdige Erlebnis von Elisabeth Kübler-Ross, die von einer ehemaligen Patientin besucht wurde und mit ihr zum Aufzug ging, und die Frau beschwor sie, weiterzumachen; nur war sie schon neun Monate tot.

 

 

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