Flugverkehr (129): Der Flug der Seele

Rachel Naomi Remen, die wir als Babyküsserin vorgestellt haben, spricht in ihren Geschichten, die gut tun, so viele Aspekte an, die mich begeistern; darum müssen wir dem Buch Dem Leben trauen und seiner Autorin noch drei Beiträge widmen. Im ersten geht es um Träume, die dem Menschen bildhaft eine Wahrheit aus seinem Inneren verraten.

Die Patientinnen und Patienten sind ja oft blockiert und wissen nicht weiter. Dass dann ein rettender Traum kommt, ist nicht garantiert. Doch die Gespräche mit der Therapeutin öffnen die Wege, und in Inneren beginnt eine Entwicklung, deren Sinn sich manchmal in einem Traum zeigt. Bei Krankheit und Verlusten und in allen Krisen geht es um die verlorene Freiheit, und Fliegen im Traum heißt ihre Wiedergewinnung.

DSCN0837Eine Frau träumte zwei Wochen nachdem sie die Diagnose Brustkrebs bekommen hatte, Folgendes: Sie ging in den Zoo und beobachtete einen Adler in seinem Käfig. Plötzlich erhob sich der Adler und flog davon — durch den Käfig, einfach so. Bedeutete das, dass sie sterben müsse? fragte die Patientin. Die Therapeutin erwiderte, man könne nur sagen, dass sie von der Freiheit geträumt habe; es könne genausogut bedeuten, dass sie weiterleben werde. — Drei Jahre später kam die Frau wieder und erzählte, vieles sei ihr klar geworden, und sie habe nun, nach der Krankheit, viel mehr Freude am Leben als früher.   

Ana, eine Asiatin, hatte eine Chemotherapie vor sich und schilderte sich als harten, grausamen und skrupellosen Menschen; sie habe so viel Dunkelheit in sich. Ihre Eltern waren im Vietnamkrieg ermordet worden, und sie schlug sich nun in Amerika alleine durch. Sie habe doch überlebt, warf Rachel Remen ein, mit dem Überleben könne sie nun aufhören. Ana meinte, sie habe nun nichts mehr zu erzählen und wisse nicht, wie sie weiterleben solle. Dann hatte sie einen Traum. Sie schaute in einen Spiegel, da war ihr Körper, und sie drang in ihn ein, stieß immer weiter vor, lief durch die Dunkelheit, und als sie schon aufgeben wollte, sah sie einen winzigen Punkt: Es war eine Rose, eine »makellose Rosenknospe an einem langen Stiel«, kurz vor dem Erblühen. Ana erkannte, dass die wundervolle Rose — vielleicht ihre Güte und Liebe — immer in ihr gewesen war; sie habe gewartet, dass sie zurückkomme.

Als Dan starb, hörte auch für seine Freundin das Leben auf. Sie resignierte und mauerte sich ein. Sie sagte, sie drehe sich im Kreis. Irgendwann begann sie über Dan und seinen Tod zu sprechen, und die Therapeutin gab ihrer Vermutung Ausdruck, das Lebe könne von selbst aufgehört haben nach diesem Schock. Es sei jedoch ihre Entscheidung, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Zwei Wochen später kam der Traum. Die junge Frau saß in einem Kreis mit Indianern. Es waren die Stammesältesten. Sie baten darum, sie möge ihnen alles erzählen, und sie tat es und fand auch den Moment heraus, als sie aufgegeben hatte: als Dans Leichnam aus dem Haus getragen wurde. Die Indianer trauerten mit ihr. Plötzlich fühlte sie, dass sie die Kraft aufbringen könnte, Dan loszulassen.

service-pnp-highsm-44200-44208rDann veränderte sich die Szene in ihrem Traum. Mit Dans leblosem Körper, der gar nichts zu wiegen schien, in ihren Armen ging sie bis an den Rand einer Erhebung. Sie wusste, dass sie ihn einen weiten Weg getragen hatte. Als sie den Rand erreichte, hab sie Dan hoch in die Luft und ließ ihn los. Er schien sich in einen großen Vogel zu verwandeln, und als er aufflog, spürte sie, dass die Freiheit sie streifte wie ein Windstoß. 

 

 

Rachel Naomi Remen, Dem Leben trauen, München: Goldmann, 2001.

 

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