Der Fahrplan

Vor ein paar Wochen fuhr ich im Nebel mit dem Rad ins benachbarte Heitersheim und hatte dabei eine harmlose Begegnung, die mich zu diesem Beitrag verführte. Da stand ein älterer Mann (um vieles älter als ich) an einem Pfahl mit Hinweisschildern und starrte hinauf. »Kennen Sie Ihren Weg?« sprach ich ihn an. »Na ja, fast«, gab er mir zur Antwort und fuchtelte mit seinem Smartphone mir vor der Nase herum.

2021-11-14-0001Es stellte sich heraus: Er wollte mit seinem Rad über Bad Krozingen nach Freiburg, das von hier 22 Kilometer entfernt ist. Seine Frau sei schon mal vorgefahren. Dann ließ er mich aufs Smartphone schauen, auf dem sich eine gezackte blaue Linie abzeichnete wie der Börsenkurs einer Firma. Man könne also, dozierte er so vor sich hin, über den Bach hier neben uns fahren, dann rechts und links, und man käme nach Gallenweiler und nach Schlickhofen — »Schmidhofen« berichtigte ich ihn, er blieb dabei, räumte schließlich ein, ich könnte recht haben … —, und dann wäre man – »sehen Sie es? — gleich in Bad Krozingen.

Ich sagte ihm, es gäbe an der Bundesstraße 3 entlang einen Radweg, der ihn direkt nach Bad Krozingen führen würde und immer weiter, stracks nach Freiburg. Nun, gab er zu bedenken, der direkte Weg sei nicht immer der schönste. Ich hielt ihm entgegen, es herrsche Nebel, man sehe ohnehin nichts. Ich hätte die beiden gern zum Radweg begleitet, zwei Stunden später wären sie in Freiburg gewesen, centre ville.

Die Frau war ja vorgefahren, wohin? Hatte sie auch ein Smartphone? Wenn sie ihn anriefe, würde er fragen: »Wo bist du?« Wüsste sie eine Antwort? Sie hätte dann laut rufen können, beste Lösung.

Jedenfalls nein, nicht der Radweg, er wolle seine kleine Strecke fahren, und als ich sagte, neben dem Schloss gehe der Radweg ab, hörte er mir gar nicht richtig zu, so besoffen war er von seinem Ding, er er starrte nur immerzu auf das Display mit der blauen Ader und wiederholte: erst rechts, dann links, alles kinderleicht. Ja, er glaube, das kriegten sie hin, erklärte er markig und männlich. Ich verabschiedete mich.

Natürlich wird es klappen. Starrt nur immer aufs Display, im Nebel ist ja sonst nichts richtig real, und sucht euch euren Weg durch die Orte. Doch ich kenne die Strecke, sie ist kompliziert, wenn man sie nicht kennt. Man konnte nur hoffen, dass sein Smartphone genügend Saft hätte, denn im Nebel ist niemand unterwegs, den du fragen könntest.

Dieser Rentner war wie hypnotisiert von seinem Smartphone, und so glotzten wir beide dort hinein, statt auf die Welt um uns herum. Er sah mich nicht einmal richtig, er redete nur monoton und schaute sein Gerät an. Solche Leute habe ich schon öfter erlebt. Sie wehren den Einheimischen ab, sie brauchen nichts von ihm, denn die Weisheit dieser Welt haben sie ja in ihrem kleinen flachen Ding.

Erich Kästner schrieb in seinem Buch Notabene über das Jahr 1945, die Deutschen glaubten an den Fahrplan mehr als an das, was sie sähen. Gut beobachtet. Sie haben ihre unerschütterlichen Prinzipien theoretischer Natur, und starrsinnig sind sie noch dazu. Napoleon bezeichnete die Deutschen einmal als leichtgläubig. Aber wenn sie einmal an etwas glauben, dann gnade uns (und den anderen) Gott. Heute glauben sie an ihr Smartphone: wie an einen Gott.

 

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