Neues Leben

Vielleicht ist manipogo zu negativ. Wir wollen freilich Hoffnung bieten, aber die entgegenstehenden Kräfte nicht verbergen getreu dem buddhistischen Motto: Zeig, was ist. Darum eine Vignette mit einem Absatz aus Erich Kästners Buch Notabene über das Jahr 1945, das ja kein gutes war. Er selber hat ja die Frage überliefert: »Herr Kästner, wo bleibt das Positive?« 

008Erich Kästner (1899-1974) schrieb aber auch: »Es gibt nicht Gutes / außer, man tut es!« Der kurze Absatz behandelt auch eine Art Neugeburt, ein Start in ein anderes Leben —allerdings der Missetäter und Mörder, die ihre frühere Existenz nur zu gern verborgen hätten.

Wenn unbekannt bleibt, wo man wohnt, ist man heute unauffindbar. Man ist verschollen. Man ähnelt Tolstois Lebendem Leichnam. Das wird sich so mancher zunutze machen, der die Vergeltung fürchtet. Er bringt sich um und lebt weiter. Nichts ist leichter. Er taucht in einem Dorf auf, hat keine Papiere, lügt sich einen belanglosen Namen und Lebenslauf zusammen, und schon ist der Schinder und Henker, der er war, mausetot. Statt seiner, den man richten, wenn nicht gar hinrichten würde, existiert ein andrer, ein freundlicher Mann, der heiraten und Kinder schaukeln wird, obwohl er verheiratet und ein Mörder ist. Vielleicht wird ihn, irgendwann einmal, einer erkennen, eins der übriggebliebenen Opfer, und wird schreien: »Das ist er!« Vielleicht. Es wird ein Zufall sein. Wenn er ein tüchtiger Mörder war, hat er dafür gesorgt, dass kein Zeuge übrigblieb.

Manchen gelang ein Neuanfang ohne die Schatten der Vergangenheit. (Vampire und Tote werfen keinen Schatten.) Der fürchterliche Josef Mengele, Lagerarzt in Auschwitz und vielfacher Mörder, arbeitete nach dem Krieg als Knecht in Oberbayern, setzte sich 1949 nach Buenos Aires ab, tauchte dann in Paraguay unter und in Brasilien wieder auf. Er heiratete und war Verwalter eines Landguts. 1977 erlitt er einen Herzinfarkt und ertrank, 68 Jahre alt. — Der gleichaltrige Alois Brunner, wichtigster Mitarbeiter Eichmanns und mitveranwortlich für die Deportation von 130.000 Juden, lebte bis 1954 unter falschem Namen in Deutschland und reiste dann nach Syrien aus, wo er Waffenhändler war und mit dem dortigen Geheimdienst zusammenarbeitete. Er soll im Diplomatenviertel von Damaskus versteckt gelebt haben und irgendwann gestorben sein, 2001, 2009 oder 2010.

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In der Literatur finden wir da eine Menge Beispiele. Luigi Pirandello (1867-1936) hat in seinen Romanen und Theaterstücken immer auf das Zerbrechliche der menschlichen Identität hingewiesen, und der Schweizer Max Frisch (1911-1991) hat die Zweifel am Ich ebenfalls ausgedehnt behandelt. Und Kafka sowieso.

Frischs Roman Stiller (1954) beginnt mit dem Satz: »Ich bin nicht Stiller!« Ein Bildhauer sitzt in Untersuchungshaft wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt (er hat einen Zöllner gohrfeigt), doch dann wird’s schwierig, weil er darauf beharrt, White zu heißen und nicht Anatol Stiller, und er hat eine Menge Geschichten zu erzählen aus fernen Ländern. Sein Verteidiger gibt ihm ein leeres Heft, und darein schreibt der Häftling, was dann der Roman wird.

In einem Beitrag wurde schon Zürich Transit erwähnt, ein Stück (1965), in dem Theo Ehrismann die Chance nutzt, die sein vermeintliches Ableben bietet. Bei Siegfried Lenz wird Harry Hoppe für tot erklärt und trennt sich von jeglichem Ballast (in Der Anfang von etwas, 1958). Bei Pirandello heißt der, der stirbt, Mattia Pascal, und als Armando Meis fängt der Totgesagte ein neues Leben an, das ihm aber nicht recht gelingt. Das Buch heißt Il fu Mattia Pascal: Er war Mattia Pascal.

 

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