Weihnacht 2020

Heute ist unsere Weihnachtsfeier im Altenheim. Vergangenes Jahr fiel sie aus. Die ganze Weihnachtszeit 2020 kommt mir heute wie ein Alptraum vor, und mir scheint, das alles liege viele, viele Jahre zurück; gründlich verdrängt. Manche Dinge muss man einfach vergessen. Auch bei uns gab es nach der Tragödie einen Neuanfang, der sich aber erst Mitte Januar einstellte.

Ich hatte mich Anfang Dezember nicht toll gefühlt, noch eine Radtour unternommen, war in die Arbeit gegangen, ruhte mich das Wochenende über aus, ging am Montag zur Ärztin nebenan zum Test, schaute am Dienstag (8. Dezember) in den Computer, gab meine Nummer ein — und wumm!, der Bildschirm färbte sich orange. Positiv! Also Quarantäne. Nach zehn Tagen hatte ich noch ein wenig Husten, also nochmal drei Tage krank, und am 21., glaube ich, ging ich wieder ins Heim. Weiße Ganzkörpermontur, Visier mit der Aufschrift »Mani« (mit Filzstift), Handschuhe. Die Uniform jeden Tag ausziehen und dort lassen. Wir brachten Tabletts auf die Zimmer und holten andere ab, redeten ein paar Worte, liefen rastlos umher.

Mittlerweile waren fünf Bewohner gestorben, dann waren es sieben. Im Wintergarten lag aufgebahrt der Leichnam einer kleinen, netten Frau, die Beerdigungsmitarbeiter kamen mit ihrem Sarg, und am nächsten Tag starb eine 90-Jährige, ich fragte sie noch, was sie habe, berührte sie, da tat sie ihren letzten Atemzug, stieß die Luft hörbar aus, und ein junger Kollege machte große Augen und hyperventilierte, weil es sein erster Todesfall war, doch eine Fachkraft aus Nigeria blieb cool und wir dann auch. Eine Frau mit Corona wurde zu uns gebracht, was die Quarantäne nochmals verlängerte: Kein Bewohner durfte sein Zimmer verlassen. Einzelhaft. Drei Wochen lang. Wir brachten das Essen auf Tabletts n die Zimmer und holten sie wieder ab.

Der Mann und die Frau vom Beerdigungsinstitut kamen wieder. Der Mann sagte, wie täten ihm ja sowas von leid, und: »Sind wir nicht gestern schon dagewesen?« Eine junge Kollegin meinte zu mir, der Mann sähe gut aus, und ich meinte, die Frau aber auch und scherzte, wir sollten sie uns aufteilen. Dann war da noch eine bewährte, beliebte Bewohnerin im zweiten Stock, die sich irgendwo angesteckt hatte und schwer atmete, keinen Appetit hatte, und am nächsten Morgen war sie auch tot.

Dezember 2020: Das war der Monat, in dem in Deutschland an Corona 19.000 Menschen starben. Bei uns waren es 10 (von 30 Bewohnern). Doch auch sehr Betagte (zwischen 80 und 96) hielten durch und lebten weiter. Die Schwächsten starben.

Dann mussten wir noch die Zimmer der Verstorbenen ausräumen. Das war hart: die persönlichen Gegenstände der Toten in Kisten packen und vors Heim stellen, damit sie abgeholt würden. Der Speisesaal war zum Depot der Stühle und Tische geworden, die man zu desinfizieren hatte. Und wir spukten wie Außerirdische herum in unseren weißen Raumanzügen. Der Chef war erkrankt, die Vizechefin auch, wir waren sozusagen führerlos und mussten uns selber leiten, es sah alles nach Ende aus, und trotzdem ging es weiter.

Am 25. Dezember war ich laut Test wieder negativ. Keine Ahnung, wie ich Weihnachten verbracht habe, vermutlich mit Rotwein und einem kleinen Imbiss, und da eine Kollegin verhindert war, ging ich auch weiter arbeiten, das tat gut, und an Silvester erinnere ich mich auch nicht mehr, alles liegt hinter einem Nebel, und doch ist es erst ein Jahr her.

Δ Δ Δ

Kurios: Exakt ein Jahr nach der ersten Ahnung, dass ich was hatte, ging’s mir wieder seltsam. Im Heim waren einige erkältet, mich hatte es auch erwischt, genau ein Jahr nach dem Drama, doch diesmal vier Mal Corona-negativ; es war eben eine Erkältung mit Husten, die mich aber schwerer erwischte als Corona. Plötzlich fühlte ich mich wieder zurückkatapultiert.

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