Neugeburt, neu betrachtet

Die spirituelle Neugeburt ist etwas Schönes, doch darf man sie nicht mystifizieren. Daher sind einige mahnende Worte nötig, die von einem buddhistischen Lehrer stammen. Buddhisten sind gut erdverbunden und ziemlich rational. Ich habe mich aus Vorträgen von Chögyam Trungpa Rinpoche (1939-1987) bedient, die er 1971 in den Vereinigten Staaten hielt. Da war er knapp über 30 — doch welche Weisheit!

Ich las noch kurz über sein Leben auf Wikipedia, sollte man aber nicht tun, und ich beschloss, das in mir drin gleich wieder zu streichen. Wir lassen stehen und gelten, was er 1971 gesagt hat, und Chögyam Trungpa hat eine humorvolle, sarkastische Art, die viel Frischluft in die dumpfe Atmosphäre um die vermeintlichen Erweckungen und Erleuchtungen bringt. In dem Buch Transcending Madness sagt er uns zunächst:

Tatsächlich findet jeden Augenblick Wiedergeburt statt. Jeder Augenblick ist Tod, jeder Augenblick ist Geburt. Es ist beständiger Wandel; an nichts können Sie sich halten, alles verändert sich. Aber es gibt natürlich doch eine Kontinuität — der Wandel ist die Kontinuität.

DSCN2692In den Seminaren ging es um Bardo-Erfahrungen, wie sie die Tibeter nennen, sozusagen Erfahrungen im Grenzbereich oder im Niemandsland, aber im Alltag möglich, die aber — wie immer in östlichen Gedankensystemen — zu komplex sind, um sie kurz darstellen zu können. Wir greifen die Aussagen zur allgemeinen Haltung des Buddhisten heraus, das erklärt schon einiges. Vorurteile und Vorannahmen machen alles schwer, ein Festhaltenwollen macht alles kaputt; man solle auf die Situation eingehen, und das voll und ganz. Nochmals kommt der Rinpoche auf die Geburt:

Bardo ist diese plötzlich aufblitzende Erfahrung, die sich stetig entwickelt. Wir versuchen sie festzuhalten, aber kaum versuchen wir es, da verlässt sie uns — eben weil wir sie festzuhalten und gleichsam zu gebären versuchen. Man möchte diese Geburt kunstgerecht einleiten, aber kaum hat man damit angefangen, stellt man fest, dass man nicht mehr gebären kann. … Das ist die Bardo-Erfahrung, die sich im alltäglichen Leben ereignet …

Man solle nicht zurückblicken, sondern einfach akzeptieren, was ist. Also:

Mit vollkommener Offenheit zur Kenntnis nehmen, wo Sie gerade sind, darauf kommt es an. … nichts begrifflich deuten, sondern mit dem Geschehen selbst umgehen — und mitgehen, mitgehen. Und das ist nicht Kampf. Ein echter Krieger kämpft nicht. Er geht einfach Schritt für Schritt weiter, weil er weiß, was er zu tun hat, und weil er seine Fähigkeiten kennt. 

Chögyam Trungpa warnt auch vor der Hochstimmung (das »High«) nach einer einschneidenden Erfahrung:

DSCN3056Es ist bei der Meditation immer wieder zu beobachten, dass jemand zu solch einem Höhepunkt der Erfahrung kommt und sie dann, weil er nichts darüber weiß, für eine besondere Offenbarung hält. … Sie haben eine Satori-Erfahrung gemacht, und jetzt ist es ein anderes Leben. Sie klammern sich daran, und das ist das Allergefäährlichste, wirklich tödlich. (…) Die Bardo-Erfahrung kann ein Durchbruch sein, aber sie ist keine große Sache. Sie ist nicht unbedingt endgültige Freiheit. Das ist eine komische Sache, wenn Leute sagen, ihr Leben sei vollkommen verändert worden — durch irgendeine Erfahrung, oder seit sie das erstemal LSD genommen haben, sei ihr Leben grundlegend gewandelt. (…)

Wir brauchen vielleicht keine großartigen Bardo-Erfahrungen, vielleicht sind die kleinen Detail-Erfahrungen genauso gut. Und diese kleinen Details oder Problemchen, die sich einstellen und die wir meist übersehen, sind der einzige Weg.

Wie sagt der Weise: Nimm das Große leicht und das Kleine schwer! Chögyam Trungpa wusste damals noch nichts von Todeserfahrungen, die wurden erst zehn Jahre später nach und nach publik, doch hat er recht: Niemand wird ein vollständig Anderer. Man hat keine Angst vor dem Tod mehr, man wendet sich anderen zu und ignoriert Karriere und Geld, gleichwohl muss man den Müll raustragen und die Wohnung saubermachen, und der Nachbar macht Lärm, und plötzlich sieht man, dass man noch kein Heiliger ist. Aber wir sind auf dem Weg, wir alle.

Der Buddhist hält sein Ego klein und will nichts; nicht einmal die Erleuchtung sollte ihn interessieren. Weshalb sollten wir Heilige werden? Freundliche Menschen sein reicht ja schon.

 

 

 

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