Ror Wolfs Welt

Ror Wolfs Prosawerk entzieht sich sämtlichen Kategorien. Der in Saalfeld 1932 geborene Autor verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Mainz, wo er vor zwei Jahren gestorben ist. Wolf ist vielleicht am ehesten als Anarchist, Nihilist und Surrealist zu bezeichnen, und ein bißchen ist er Clown, ein bißchen Existenzialist. Er macht sich über unsere Realität lustig, indem er sie neu erfindet, variiert und wieder auslöscht.

DSCN0352Da werden uns in einem Satz Fakten gemeldet, die im nächsten gleich wieder dementiert oder abgewandelt werden. Alles wird hingezaubert und wieder weggenommen, und am Ende bleibt Schweigen oder allenfalls ein kleines Nachzittern. War da was? Eine Seite aus Nachrichten aus der bewohnten Welt (1992, übrigens auch ein schön anzufassendes und lesendes Buch, Frankfurter Verlagsanstalt):

Das Ende der fremden Verhältnisse

Ein Mann, der über die Schönheit von China berichten will, stürzt, aus etwa einhundertfünfzig Metern Entfernung, aus einem Ballon herab auf die Erde und ist sofort tot. Die Geschichte wird auch ganz anders erzählt. So ist es gar kein Ballon, aus dem der Mann stürzt, und es ist auch nicht China, auf das er hinabfällt, sondern Marokko. Womöglich ist er gar nicht tot, sondern wird nur für tot gehalten. Zum Glück gehört dieser Fall ohnehin zu den Seltenheiten und braucht uns nicht zu beunruhigen. Der Mann, ein Vertreter, kommt mit dem Schrecken davon und eröffnet in Schruns ein Zigarrengeschäft. Das genügt. 

Denken wir an die Medien. Mit welcher Überzeugung deren Vertreter uns eine Realität aufdrängen wollen, die sie selber erfunden haben! Da ist etwas passiert, aber ist es auch so passiert? Und warum wird nicht anderes gemeldet, das auch passiert ist? Wenn ich die jungen Damen in den flotten Fernsehsenderm sehe, die einen Beitrag anmoderieren, dreht sich mir der Magen um. Mittlerweile kann ich sogar den besserwisserischen, lehrerhaften Ton zu den Naturfilmen auf arte und 3sat nicht mehr ertragen. Zeigt uns die Bilder und haltet bitte den Mund! Die Zeitungen servieren uns die Essenz bürgerlichen Denkens, das Gekeife auf den Social media ist nur Begleitrauschen, alles ist öder mainstream, doch wo ist die Wahrheit und wo bleibt der Spaß?

Ror Wolf ist Poet, und sein Gedicht Der letzte Ball ist ein Meisterwerk. Er mag schräge Ortsnamen wir Prüm, Schruns und Mumpf (die es ja tatsächlich gibt), und, geschickt komponiert, ergeben sich Kapitel- und Buch-Überschriften, die man sich auf der Znnge zergehen lässt:

Ausschweifungen in Melle
Wahrheit und Wirklichkeit in Prüm
Die Wortlosigkeit in den Alpen
Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen (ein unveröffentlichter Roman)
Die plötzlich hereinkriechende Kälte im Dezember

Was wissen wir denn? Nichts. Oder nur Ungefähres oder soviel, wie man erfährt in der Geschichte über

02ffGewisse Ungewißheiten in X

Ein, ja, ein Mann, ich glaube ein Mann, sein Name liegt mir auch irgendwie auf der Zunge, ging langsam, ich glaube geduckt, ich weiß nicht mehr wie, wahrscheinlich irgendwohin, um eine bestimmte Sache, die mir entfallen ist, eventuell aufzuklären, um einen, mag sein, um einen entsetzlichen Fall von Mordlust zu lösen. (…)

Doch andererseits, was ist das gegen

Nächtliches Aufschreien

Ein Mann wurde in einen Wald gelockt und dort niedergeschlagen. Als er erwachte, lag er in einem Keller. Er wunderte sich, zumal ein Mann vor ihm stand, der im Begriff war, ihn niederzuschlagen. Als er erwachte, in einer leeren Fabrik, bemerkte er, wie ihm ein Mann eine Flüssigkeit in den Mund goss. Er schlief lange, und als er erwachte, befand er sich in einem schönen Hotel, erkannte auch einen Mann, der sich anschickte, ihn niederzuschlagen. (…)

Bis er erneut niedergeschlagen wird und in einen Fluss stürzt, wenden wir uns einem anderen Mann zu, der mit Schopfheim zu tun hat, mit Schopfheim am Rhein! (Meint Ror Wolf dieses? Ist es nur ein Codewort?) Da geht es rasant zu. (Der Mann oben, der Clown, wurde von Karl Heinz Renner, Freiburg, in Szene gesetzt.)

Ein unvermeidliches Schicksal in Schopfheim

In einer allgemeinen Verwirrung springt ein Mann aus dem Bett und bahnt sich im Nebel den Weg durch das Gedränge des Badischen Bahnhofs. Er 018springt in den Schnellzug, der aus verschiedenen Gründen vorbeikommt, fährt ein bestimmtes Stück und schwingt sich wieder heraus, hinein in die leckende Nacht. Er wirkt wie ein Reisender, der in die Berge fährt, um sich von ihnen herabzustürzen. In einem einzigen schwarzen Moment springt er die Bahnsteigtreppe hinauf, direkt in ein Automobil, das aus der Dunkelheit auftaucht und wieder in ihr verschwindet; er rollt nun dahin, von einem Land in das andere, an lächelnden Polizisten vorbei, die ihre großen Revolver alle auf einmal auf ihn abschießen. Durch Schopfheim fährt er mit allergrößter Geschwindigkeit, auf nichts anderes achtend, als auf das Schießen; dabei fällt ihm die Schönheit Schopfheims nicht auf, er ist nicht der Schönheit wegen nach Schopfheim gekommen; deshalb werden wir nun von ganz anderen Dingen reden als von der Schönheit Schopfheims, die allerdings außergewöhnlich ist.

Als ich vor kurzem den Kriminalroman Hunde von Riga von Henning Mankell las, musste ich an einer Stelle lächeln; weil ich an Ror Wolf dachte. (Das Buch erschien im selben Jahr wie Wolfs, 1992.) Kommissar Wallander bekommt ein Zeichen, und die Frau sagt, er solle ihm folgen. Dann:

Hinter einer vom Alter gezeichneten Grabkapelle befand sich eine Seitentür, sie drehte den Schlüssel im Schloss herum, der größer war als ihre Hand. Sie kamen auf einen Kirchhof hinaus. … Sie verließen den Kirchhof durch eine Pforte, die auf eine Nebenstraße führte, und ein unbeleuchtetes Auto startete aufheulend seinen Motor. Diesmal war sich Wallander vollkommen sicher, dass es ein Lada war. Der Mann am Steuer war sehr jung.

 

 

 

 

 

 

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