Sozialdarwinismus

An den Korczak-Beitrag muss ich nun ein Stück aus Freislebens Medizin ohne Moral anfügen, das mir Neues gesagt hat. Zu meiner Schande wusste ich nicht, dass die »Wissenschaft« bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland vom Kampf der Rassen und einer Überlegenheit stärkerer Rassen sprach — und die Gegner einer derartigen Ideologie befanden sich um 1930 schon in der Minderheit.

Freisleben schreibt:

Man verstand Darwins Evolution als Naturprinzip der Optimierung und das analytisch-lineare Denken als Methode, die Gesetze dieser Optimierung zu erkennen. Da die Natur als unendlich »verbesserungsbedürftig« galt, wurde das neue Wissen über sie gleichzeitig zum Instrument, um radikal in sie einzugreifen. … Darwins Vetter Francis Galton glaubte wie viele andere, dass diese natürliche Selektion in der menschlichen Zivilisation nicht mehr funktioniere und deshalb überlegene Menschenrassen von unterlegenen verdrängt würden. 

Da haben wir wieder dieses schreckliche Wort »Selektion«, deren »Durchführung« (auch ein Unwort aus damaliger Zeit) von den Nationalsozialisten wörtlich genommen und »radikal« umgesetzt wurde. Verelendung und Ungerechtigkeiten bezeichnete der Sozialdarwinismus als natürliche Begleiterscheinungen der menschlichen Evolution. Freisleben:

Ernst Haeckel legte in seinem Werk »Natürliche Schöpfungsgeschichte« dar, dass es unter den Menschen eine natürliche Auslese durch den Kampf ums Dasein gäbe, indem der Stärkere über den Schwächeren siegt. … 1904 gründete er die »Gesellschaft für Rassenhygiene«.

Menschen ohne »eugenischen Vollwert« sollten sich nicht länger fortpflnzen, und man postulierte die verschiedene Wertigkeit der Rassen. Das Lehrbuch für die Universitäten hierzu kam von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz und hieß Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, erschienen 1921.

Freisleben:

Die Nationalsozialisten setzten auf Theorien, die bereits lange zuvor in der vermeintlich rationalen Wissenschaft entwickelt worden waren und setzten sie schonungslos in die Tat um.

Kaum zu glauben: Von 1946 bis 1955 hielt Fritz Lenz, Mediziner und Mitautor des soeben erwähnten Bandes, den Lehrstuhl für Menschliche Erblehre an der Universität Göttingen. Im Jahr nach der Befreiung von Auschwitz konnte man in Deutschland also noch solch einen Lehrstuhl gründen und besetzen! Eugen Fischer, zweiter Autor, wurde in der Nachkriegszeit mit Ehrungen überhäuft (Baur war schon 1933 gestorben). Karl Haedenkamp, bei den Nationalsozialisten verantwortlich für die Ausschaltung jüdischer und sozialistischer Ärzte, war von 1949 bis 1955 Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Ärztetags, schreibt Erich Freisleben.

Da wir gerade bei der Medizin sind, soll auch das Schicksal des Buches Medizin ohne Menschlichkeit über die Nürnberger Ärzteprozesse, also die bestialischen Menschenversuche unter dem Nationalsozialismus, erwähnt werden. Die erste Auflage erschien 1948 unter dem Titel Wissenschaft ohne Menschlichkeit und war vom Deutschen Ärztetag 1948 in Auftrag gegeben worden. Alexander Mitscherlich (Autor neben Fred Mielke) schreibt im Vorwort zur Neuauflage 1960, sie hätten 10.000 Exemplare der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern zur Verteilung an die Ärzteschaft übergeben. Doch eine Wirkung sei völlig ausgeblieben. Mitscherlich, verwundert:

Nahezu nirgends wurde das Buch bekannt, keine Rezensionen, keine Zuschriften aus dem Leserkreis, unter den Menschen, mit denen wir in den nächsten zehn Jahren zusammentrafen, keiner, der das Buch kannte. Es war und blieb ein Rätsel — als ob das Buch nie erschienen wäre.

Bleibt nur die Vermutung: Die 10.000 Exemplare wurden eingestampft. Vielleicht verbrannt? Mitscherlich reiste 1960 durchs Land und überlegte:

Wer heute durch Deutschland fährt, kann sich nicht vorstellen, dass vor 20 Jahren hier die Gasöfen rauchten, in denen die Geisteskranken verbrannt wurden, dass vor 15 Jahren erst sich die Konzentrationslager für die letzten Überlebenden von Millionen öffneten, dass junge deutsche Soldaten, von ihren eigenen Standgerichten verurteilt, an den Apfelbäumen der Landstraßen hingen. Wieder hat Tüchtigkeit und Ordnungssinn das Grauen gebannt.

Zwei Jahre vorher, 1958 (ich war schon ein Jahr alt) wurde der heitere Film Immer die Radfahrer! gedeht, mit Heinz Erhardt und Hans Joachim Kulenkampff in den Hauptrollen. Vorgestern lief er am Vormittag im Sender rbb. Da sind alpenländische Landschaften zu sehen, Frauen in blütenweißen weitschwingenden Röcken, Buam in Lederhos’n und Männer in Anzügen, und es ist überdreht-lustig, eine Klamotte, eine Verwechslungs-Komödie, so richtig fürs Vergnügen gemacht. Und 13 Jahre vorher fielen Bomben, wurde noch gefoltert und gemordet. Wie schrieb Brecht:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

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