Ernst Cassirer

Wir müssen uns eine Weile Ernst Cassirer zuwenden, einem der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er hat in seinem Hauptwerk gezeigt, dass Sprache, Kunst, Mythos und Wissenschaft »symbolische Formen« sind, mit denen sich der menschliche Geist ausdrückt. Ich hoffe, das nächstes Mal überzeugend darzustellen. Doch zu nächst sein Leben.

Es gibt ja kaum Interessanteres als Lebensläufe, und zum Glück hat Wikipedia sTausende davon zu bieten. Wenn ich einen Film sehe, schaue ich mir danach gerne aus Neugier an, wie das Leben des Regisseurs (der Regisseurin) oder des Hauptdarstellers verlaufen ist. Jedes Leben ist einzigartig, und dann auch welche Vielfalt in den Lebensläufen!

OIP._3LPlPrOC05zqCU44taFqAHaHQIch hatte bei meiner Hausärztin in einem Regal mit zu verschenkenden Büchern einen dicken Band entdeckt, auf dem Ernst Cassirer stand, und der Name war mir irgendwie bekannt. Ein voluminöser Band ist das, 1966 bei Kohlhammer in Stuttgart erschienen als Übersetzung eines US-amerikanischen Werks von 1949. Und gleich der erste Beitrag von Dimitry Gawlonsky (zu dem gibt es keinen Lebenslauf) behandelt Leben und Werk Cassirers. Das gilt es nun kurz zusammenzufassen.

Cassirer muss ein sanfter Mann mit großer Geduld gewesen sein, und ein Genie war er auch. Er lernte rasch fremde Sprachen, konnte seitenweise aus dem Gedächtnis zitieren, kannte die Werke von Hunderten von Autoren und erwähnte sie in seinen Büchern, kannte natürlich die Philosophie, aber auch Ethnologie, Anthropologie, Quantenphysik und Mathematik wie ein Experte und fing am frühen Morgen an zu schreiben — in einem flüssigen, gefälligen Stil noch dazu. Trotzdem hatte er Zeit, am Abend mit seiner Familie zusammenzusitzen, und für jeden Studenten, der sich an ihn wandte, hatte er Zeit. Ernst Cassirere war vielleicht einer der letzten Universalgelehrten, blieb dennoch immer bescheiden.

berlinwinterEr wurde 1874 in Breslau geboren und studierte die meiste Zeit in Berlin (bei Georg Simmel), bis er 1896 zu Marburg und Professor Hermann Cohen kam, einem Kenner Kants. Immanuel Kant und Goethe haben Cassirer sein ganzes Leben begleitet. Nach der Promotion traf er 1901 seine Kusine Tony aus Wien, die er heiratete, und es wurde eine gute, lebenslange Ehe. 1906 und 1908 veröffentlichte der Gelehrte Bücher über die Erkenntnis, die weltweit beachtet wurden. Cassirer bekam aber keine Einladungen zu einer Professur; er wollte in Berlin bleiben (Bild: Winter in Berlin) und war dort Privatdozent. Gawlonsky erinnerte sich an ein Treffen mit ihm:

Cassirer erzählte, wie ihm im Jahre 1917, als er gerade in die Straßenbahn stieg, um nach Hause zu fahren, der Plan einer »Philosophie der Symbolischen Formen« aufleuchtete. Als er wenige Minuten später zu Hause ankam, stand die Konzeption dieses neuen großen Werks fertig vor seinem geistigen Auge, mit allen Einzelheiten, wie er den Plan dann im Laufe der nächsten 10 Jahre ausarbeitete. 

Da dachte ich an Freeman Dyson, der in einem Überlandbus eine Inspiration hatte. — Die drei Bände wurden von 1923 bis 1929 veröffentlicht. In dieser Zeit war er Professor an der Universität Hamburg (von 1919 bis 1933). Als er von offiziellen Stellen hörte »Recht ist, was unserem Führer dient«, sagte er nur: »Das ist das Ende Deutschlands.« Ernst Cassirer trat als Rektor zurück und verbrachte danach zwei Jahre in Oxford und sechs in Schweden (Göteborg). Danach folgte die Yale-Universität und, 1944, New York.

Schön ist Gawlonskys Schlussabsatz:

Bis zu seinem Tode bewahrte Cassirer seinen jugendlichen Geist, seine lebhafte Anteilnahme an den Mitmenschen und der Welt und seine tätige Nächstenliebe. Man kann sich nur schwer einen gütigeren und liebenswerteren Menschen vorstellen, einen Menschen, der so sehr dem Guten zugetan war. Symbol dessen ist sein Sterben: Er traf (am 13. April 1945) auf der Straße einen seiner Studenten, der ihn etwas fragte. Cassirer wollte ihm antworten, lächelte dem jungen Mann freundlich zu und sank plötzlich tot in dessen Arme.    

 

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.