Fahrrad: die Bedrohung

Im Februar geht es mal nicht um einen konkreten Scheunenfund, sondern um ein Fundstück. Das Fahrrad ist ja kein poetischer Gegenstand, in der Lyrik gibt’s da kaum etwas (vielleicht in der neueren) und natürlich nichts bei Dostojewski, während Tolstoj Radfahrer war, ohne dass er das spüren lässt, doch ich habe einen Zufallsfund gemacht. Da wirft jemand von außen einen Blick auf die Radfahrer-Szene. 

Da ist die Geschichte Zombie City aus dem Band Eigermönchjungfrau (2004, Originalausgabe 1998), von Alex Capus, Schweizer Autor, geboren 1961. Herr Mohn stellt sich als neuer Lokalredakteur bei der kleinen Zeitung vor und wird dröhnend von Chefredakteur Trümpy empfangen, der ihm gleich sagt, worum’s geht:

»Treiben Sie Sport? (…) Ich fahre Rad! Alle hier fahren Rad! Ich selbst bin heute früh kurz die Hasenweide hoch- und wieder runtergefahren. Großartiges Gefühl! … Die Fahrradtechnik hat ja enorme Fortschritte gemacht in den letzten Jahren.«

0071Mohn treibt keinen Sport. Hat nicht einmal ein Fahrrad. Der kleine Dienstchef René Krattiger kommt und verwickelt Trümpy in ein Gespräch, in dem es um »hydraulische Bremsen, Bio-Pace, Titanrahmen und Shimano-Wechsel« geht, und Mohn sieht an der Wand eine große Fotografie:

Darauf waren etwa zwanzig erwachsene Männer und Frauen abgebildet, die alle schwarze Hosen und neonfarbige T-Shirts trugen, mit der linken Hand ein buntes Fahrrad hielten und mit den Zähnen in die Kamera lachten. Zuvorderst in der Mitte strahlten Trümpy und Krattiger, als ob sie die Tour de France gewonnen hätten. 

Mohn nimmt es zur Kenntnis. Dann schockt ihn der Chef:

»Ach, übrigens«, schrie Trümpy, als er sich wieder an mich erinnerte, »da fällt mir ein: Heute abend findet unser wöchentlicher Bike-Treff statt! Praktisch die ganze Redaktion, die halbe Setzerei und ein Viertel der Druckerei! Kommen Sie doch auch! Ausgezeichnete Gelegenheit, alle hier kennenzulernen!«

Also um acht auf dem Hinterwiler Geißenhubel bei der Klausenkapelle, wo immer das ist. Und Mohn hat kein Rad. Krattiger sagt, er leiht ihm eines von seinen, und sie könnten zusammen nach Hinterwil radeln. Er macht auf Kumpanei:

Ein Affentheater um diese Radfahrerei, nicht wahr? … Hat nichts als Radfahren im Kopf, der Chef.« 

047Kurz vor acht wartet Mohn also im dunklen 12-stöckigen Hochhaus vor der Tür Krattigers. Dann erleben wir einen geistigen Ausreißversuch des Lokalredakteurs mit, einen Parforce-Ritt in die menschliche Psyche, hinein in existentielle Fragen: Über einige Seiten (fast die Hälfte des Textes) malt er sich aus, was die Leute in ihren Wohnungen tun nach der Arbeit. Gute Frage: Wie verbringt der Mensch seine Zeit, die ihm gegeben ist? Verfällt er in Verzweiflung, dreht er durch? Das ist ziemlich abgedreht, aber auch verdammt gut. Dann Finale:

Im blendenden Gegenlicht stand Dienstchef Krattiger in schwarzen Radlerhosen und rosa T-Shirt, strahlte mich an und sagte: »Auf geht’s!«

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Wie gesagt, es ist ein ironischer Blick von außen auf eine eingefleischte Szene. Gerade Männer können ja mit ihrem Expertentum ziemlich einschüchternd wirken. Männer geben sich nicht damit zufrieden, eine Passion zu haben; sie wollen eine Hegemonie und alles wissen und damit andere schlagen; es geht um den Sieg, eigentlich um die Macht. Wer mitreden kann, gilt als Eingeweihter und wird gnädigerweise akzeptiert; so hat man Kompetenz und fühlt sich groß (wenigstens in einem Fach).

Auch ich stehe manchmal ratlos im Fahrradladen und höre mir an, was ein Kunde dem Besitzer sagt, was er alles weiß, und ich verstehe Bahnhof, denn ich fahre bloß und überlasse den Rest dem Experten. Und dann gibt es die Radfahrer, die mit ihrem Begleiter vorbeikommen und ihm schreiend irgendetwas mitteilen über neue Entwicklungen (oder über ihre Probleme in der Firma). Fahren, um alt zu werden oder fahren, um Kilometer zu machen, ist ja okay, aber wo bleibt das Vergnügen? Vergessen wir nicht den schönen Spruch über das Fußballspiel, es sei »die schönste Nebensache der Welt«.

 

 

 

 

 

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