Tote erzählen

Man kann einen Schritt weitergehen und den Geist selber erzählen lassen. Das haben manche Autoren getan. Hat den Vorteil, dass er den »allwissenden Erzähler« spielen kann, denn der Geist kriegt alles mit und bleibt doch unsichtbar. Manche Mordopfer haben aus dem Jenseits über ein Medium ihren Mörder enttarnt, doch das muss ich noch recherchieren. 

Mir sind in meiner Büchersammlung drei schöne Fälle begegnet. Auf das Thema kam ich, als ich die Titelgeschichte aus Alex Capus‘ Erzählband Eigermönchundjungfrau (1998/2004) anlas, denn der Anfang geht so:

DSCN0843Am Tag, an dem ich starb, machte ich einen Fehler: Ich stieg auf Gleis 11 in den Zug und fuhr nach Bern. Das hat mich das Leben gekostet. Die Berner Altstadt hat mich mit all ihrer Schönheit umgebracht. Natürlich hätte die ganze Sache an vielen anderen Orten auch geschehen können, aber Bern war eben ganz besonders gefährlich. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte nicht fahren dürfen. Jetzt ist es zu spät.

Der Reisende driftet durch die wunderschöne Berner Altstadt und sieht nur glückliche Menschen. (Oben rechts: Dorf in der Schweiz. Mit Modell einer glücklichen Kuh.) Alle sind hier zufrieden, scheint es ihm. Zwei Polizisten trifft er an.

Sie waren eben dabei, mit ihren Gummiknüppeln zufrieden grinsend einen glücklichen Penner aus einer Ladengasse zu prügeln.

DSCN0352Das viele Glück lässt Gase in seinem Magen entstehen. Er bläht sich auf, immer weiter. Kann sich gerade noch ein herrenloses Damenfahrrad schnappen und es tragen. Wieder Polizisten. Der Mann lässt das Rad los und entschwebt als »humanoider Heißluftballon«. Auf 2000 Meter Höhe

erfror ich ziemlich schnell und war tot, und seither fliege ich tiefgefroren durchs All auf der Suche nach jenem Ort, der möglichst weit entfernt ist von Städten wie Bern.

Wie kam er nach Bern?

Etwas Berufliches wird es wohl gewesen sein; solche Dinge verlieren erstaunlich schnell an Bedeutung, wenn man tot ist.

Susie Salmon, die Erzählerin in Alice Sebolds Roman The Lovely Bones (2002) kennt das auch:

Ich kann das Loch immer noch sehen, es war gestern und es war. Das Leben ist für uns ein andauerndes Gestern.

Der Anfang geht so:

Mein Name war Salmon, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde.

Es geht immer voll zur Sache. Susie beobachtet von oben, und die Sprache der Autorin ist überzeugend, es ist der schnoddrige und überlegen wirken wollende Stil einer 14-Jährigen, die von einem Nachbarn, Mr Harvey, in ein Loch im Feld gelockt und dort ermordet wurde. Harvey findet am Ende seine gerechte Strafe, die Familie ist nach Wirren wieder vereint, und Vater und Mutter geben sich zu, dass sie Susie immer in ihrer Nähe gespürt hätten. Ich habe im Juni 2014 schon einmal über den Roman geschrieben. Nun las ich wieder über Frau Sebold nach, die 1963 geboren wurde. Ihr Roman verkaufte sich zehn Millionen Mal und wurde verfilmt.

Er geht auf ein traumatisches Erlebnis der Autorin zurück: Als 18-Jährige wurde sie 1982 bei ihrer Universität in einem Tunnel von einem Mann brutal vergewaltigt. Sie meinte, ihn erkannt zu haben, und der Mann, Anthony Broadwater, verbrachte 16 Jahre in einem US-Gefängnis, bis er im November 2021 entlassen wurde. Er war doch der Falsche gewesen und wurde rehabilitiert, und Alice Sebold entschuldigte sich bei ihm. In der Folge wurde die Verfilmung ihrer Autobiografie Lucky gestoppt. Das Trauma der Vergewaltigung hatte sie ja schreiben lassen und ihr einen großen Erfolg beschert; doch der Epilog ist etwas traurig.

Dann gibt es noch das heitere Buch Im Jenseits ist die Hölle los von dem Finnen Aarto Pasilinna (1942-2018), das schon 1980 erschien. Da ich es nicht mehr finde, muss ich den Verlagstext zitieren:

»Mein Tod kam für mich völlig überraschend.« So kann es gehen, wenn »Mann« beim Überqueren einer Straße allzu intensiv einer jungen Frau hinterherschaut und von einem Auto erfasst wird. Doch überraschender ist für den soeben verstorbenen Journalisten, dass er fortan als Geist über den Dingen schweben und andere Tote treffen kann. Doch Vorsicht: Kein Geist lebt ewig, und Dummheiten bleiben nie ohne Folgen …

 

 

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