Am Mittelmeer

»Der Reisende tut sich schwer, den vollkommenen Augenblick auszuwählen, der allem anderen Sinn gibt«, überlegt Rafael Chirbes in seinem Reisebuch Am Mittelmeer. Man könnte auch den vollkommenen Satz (oder einige geglückte Sätze) auswählen und hätte so etwas wie den Geist eines Buches eingefangen, und das versuchen wir nun mit dem kleinen Buch des spanischen Autors, der 1949 in Valencia zur Welt kam und nach vielen Reisen und 10 Romanen 2015 dort starb. 

thDie Texte des Buches (deutsch im Diana Verlag, 2003) wurden von 1994 bis 1999 geschrieben, und es geht um Kreta, Lyon, Alexandria, Kairo, Rom, Genua und Valencia, um die Vielfalt des Lebens und der Landschaft rund um das Mittelmeer. Der Autor weiß viel von der Geschichte und versteht es, in betörender Sprache die Städte zu schildern und unvergessliche Szenen einzufangen mit Licht und Schatten an den Küsten, bei den Fischern und den Besuchern der Tavernen. (Das ist sicher auch ein Verdienst der Übersetzer Thomas Brovot, Stefanie Gerhold, Christian Hansen und Dagmar Ploetz.)

Der Reisende erspürt den vollkommenen Augenblick, schreibt Chirbes, und kommt auf etwas, »das sich nicht in Worte fassen lässt«. Als Dichter ist er nicht unempfänglich für die Schönheit der Namen:

Doch ohne den Zauber der Namen (Europa, Asien, Bosporus) würde die ganze Welt zu einer einzigen weiten Wüste. Istanbul.

32669811253_23a041f89d_nIm Abendlicht stechen die Spitzen der Minarette in die Nebelschwaden, die sich dort in der Höhe bildeten, und es war, als webten sie dort eine alles umhüllende, nahtlose Macht, ähnlich jener, welche die Wörter zu besitzen scheinen. 

 

Schon damals, vor 25 Jahren, überschwemmte der Massentourismus die Städte und schönen Gestade, und Rafael Chirbes beklagt das, aber ohne Pathos; er stellt fest, ohne zu urteilen, und über die Überwinterer im Rentnerparadies Benidorm schreibt er geradezu mit Sympathie, weil er die Menschen liebt. Die Intranszendenz (im zweiten Zitat) könnte man übersetzen mit der Weigerung, über diese Welt hinauszublicken, in die Tiefe oder in die Ferne: keine Transzendenz, also kein Bezug zum Göttlichen und Metaphysischen.

Die entehrten Ruinen von Knossos konnten ihm nichts bieten. Sie hatten schon alles jenen gegeben, die vor ihm gekommen waren.

DSCN3349Die Intranszendenz — Motto der Postmoderne — hat sich in den Straßen von Benidorm festgesetzt. … In Benidorm (…) ist alles schlicht das, was es ist, nichts schmückt sich zur Erhöhung des Mehrwerts mit einem ideologischen Überbau; die reine Intranszendenz zeigt sich mit unbescholtener Schamlosigkeit, bietet sich zu konkurrenzlosen Preisen an und entspricht damit ohne weiteres dem, was vor dem Fernsehschirm stattfindet, dem freudigen Vollzug des Wohlfahrtsstaats.

Ein paar Bemerkungen sind wahre Perlen.

Denn auch die Schönheit hat ihre dunklen Seiten, von der kein Reiseführer spricht und die unserem eigenen Wohnzimmer gefährlich ähnelt.

… wo Grünflächen und nummerierte weiß getünchte Bungalows in einer Reihe nebeneinander standen, dass es mir wie ein riesiger Friedhof vorkam.

Ich las das Buch in mir selbst.

Und die Religion sieht er skeptisch. Schön ist die Beobachtung in Rom (das zweite Zitat), mit der das Buch endet.

DSCN2516Die Anbetung Gottes ist nichts anderes als des Menschen Anbetung ihres eigenen Stolzes.

… derweil die Sonne unbarmherzig auf die antiken Frontispize niederbrennt, der Regen die Reliefs der Säulen und Obelisken aus der Kaiserzeit zersetzt und das Kohlenmonoxyd der Autoabgase an den Konturen der alten Brunnen nagt und die Gesichter der Statuen zerfrisst, unterstützt durch die Vibrationen des pausenlosen Verkehrs in den Straßen dieser Stadt, die so bröselig ist wie Blätterteig. Man könnte also sagen, dass in Rom nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter — wenn ihre Zeit gekommen ist — wieder zu Staub werden, zu dem Staub der Träume, aus denen sie erstanden sind. 

 

 

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