Lushins Verteidigung

Russische Autoren trieben sich gern im Ausland herum oder gingen gleich ins Exil. Tschechow starb 1904 in Badenweiler, Joseph Brodsky, Lyriker und Nobelpreisträger 1996, lebte in den USA, und Vladimir Nabokov (1899−1977) war nach 1917 auch dauernd unterwegs und verbrachte seinen Lebensabend in der Schweiz (Montreux). Ein Bekannter wies mich an Weihnachten auf seinen frühen Roman Lushins Verteidigung hin, einen Schach-Roman, und den habe ich gerade gelesen. Was für ein wunderbarer Autor!

Nabokov feilte unendlich lang an seinen Sätzen, und die konzentrierte Arbeit merkt man auf jeder Seite. Was für ein Humor! Ich musste öfter laut lachen, und das lag nicht an der Handlung, sondern daran, wie sie dargestellt war. Natürlich kannte ich die Romane Lolita und Pnin, das Gedicht Pale Fire und seine Autobiographie Erinnerung, sprich. Lushins Verteidigung ist 1930 geschrieben worden. Da flossen viele Erinnerungen aus der Kindheit ein. Lushin ist immer Lushin; am Anfang der 300 Seiten sagt der Vater, er werde ihn nun so nennen, und auf den letzten beiden Zeilen ist er plötzlich Alexander Iwanowitsch: Als er schon nicht mehr ist. Typisch Nabokov: alles streng durchkomponiert wie ein Schachproblem.  (Foto: aus einer Nabokov-Biografie, der Autor als junger Mann. Dank dafür an Ramon Carbonell, der mich auch auf Lushin aufmerksam gemacht hatte!

Vladimir Nabokov war ein begeisterter Schachspieler, liebte die Geister- und die Schmetterlingskunde (Lepidepoterologie), und er war extrem sprachbegabt. Lolita, das 1955 erschien, schrieb er auf Englisch. Klar, aus Russland war er nach Cambridge gezogen, dann folgten Berlin, Paris, die USA (1945, nach dem Krieg, bis 1960) und die Schweiz. W. G. Sebald hat ihm in dem neunseitigen Aufsatz Traumtexturen, erschienen in dem Nachlassband Campo Santo, ein schönes Denkmal gesetzt.  

»Nicht umsonst hat er seit dem Zeitpunkt seiner Exilierung nirgendwo auf der Erde einen richtigen Wohnsitz gehabt … Die Residenz, in der er zuletzt lebte in Montreux und wo er von seinem Logenplatz im obersten Stock des Palace Hotels über jedes irdische Hindernis hinwegsehen konnte in die Wolken und in die über dem See untergehende Sonne, ist ihm, seit dem Kindheitsdomizil Wyra, sicher die angemessenste und liebste Behausung gewesen, ebenso wie ihm, nach einer am 3. Februar 1972 einer Besucherin namens Simone Marini gegebenen Auskunft, die Seilbahn, insbesondere der Sessellift, das liebste Beförderungsmittel war.« 

Dazu fiel mir das 16. der 20 Mottetti von Eugenio Montale (1896−1975) ein, einem Zeitgenossen Nabokovs. Es sind strenge, spröde, hermetisch wirkende Sentenzen, die an Schönheit ihresgleichen suchen. »Un cigolio si sferra, ci discosta, / l’azzurro pervicace non ricompare. / Nell’afa quasi visibile mi riporta all*opposta / tappa, già buia, la funiculare.« 

Lushin und andere Werke  

Lushin ist ein verschlossener Junge, der plötzlich das Schachspiel entdeckt. Er wächst zu einer Größe heran und gilt als Wunderkind. Dann gibt es einen Schnitt: Nach 16 Jahren sehen wir ihn wieder, er ist nun ein 30-jähriger junger Mann, berühmt durch viele Schachsiege, aber abgeschlafft und nachdenklich. Er hat das Glück, eine reizende Frau kennenzulernen, die er heiratet und die sich um ihn sorgt.

 Doch er bricht nach einer Partie zusammen, und seine Frau versucht, ihn ganz vom Schach wegzubringen. Es hilft nichts; in ihm verfestigt sich der Wahn, sein Leben bestehe aus Wiederholungen, irgendeine geheime Kraft spiele eine Schachpartie gegen ihn, und es gehe um alles. Lushin hat so viele Partien gewonnen, aber in diesem Kampf unterliegt er.  

Humbert Humbert scheitert in seiner Beziehung zu Lolita, der Dichter John Shade, Hauptfigur des 999-Zeilen-Gedichts Pale Fire, wird erschossen, und Timofey Pnin, der kauzige Exilrusse in den USA, muss nach neun Jahren an einer Universität gehen, die ihm zur Heimat geworden ist. Nach einer Feier, bei dem er erfährt, dass er gefeuert ist (»It signifies that they are firing me?«), macht er sich an den Abwasch.  

Nur einem Meister wie Nabokov kann es gelingen, das ganze Drama in der kleinen Szene zusammenzufassen, als Pnin eine schöne Schale entgleitet und ins Abwaschwasser kippt; etwas klirrt. Er ist entsetzt. Wie oft sieht man es von oben. »Ein stilles grünes Insekt mit spitzen Flügeln zirkulierte im starken Licht einer nackten Lampe oberhalb von Pnins glänzendem, kahlen Haupt. Er sah sehr alt aus, hatte den zahnlosen Mund halb offen, und ein Tränenfilm lag auf seinen blanken Augen, die nicht zwinkerten.« Er ahnt alles und greift ins Wasser, aber die kostbare Schale ist intakt. Da ist er wieder, der Magier Nabokov, der einen stets überrascht.  

Am Ende beobachtet der Erzähler, wie Pnin in einem kleinen Auto davonfährt, und der Satz ist so schön, dass man wünschte, ihn selbst geschrieben zu haben: »Then the little sedan boldly swung past the front truck and, free at last, spurted up the shining road, which one could make out narrowing to a thread of gold in the soft mist where hill after hill made beauty of distance, and where there was simply no saying what miracle might happen.« 

In meiner Übersetzung: »Dann schwang sich die kleine Limousine kühn an dem Lastwagen vor ihr vorbei und jagte, endlich frei, die schimmernde Straße entlang, die sich im sanften Nebel zu einem Goldfaden verengte, wo ein Hügel dem nächsten folgte, dadurch Entfernung zu Schönheit werden ließ und wo man einfach nicht sagen konnte, was für Wunder noch geschehen konnten.« 

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Im Nachwort zum Buch ist die Notation der »Unsterblichen« abgedruckt, die Adolf Anderssen (weiß) 1851 gegen Lionel Kieseritzky (schwarz) spielte. Ich gebe sie wieder: 1. e4 e5 2. f4 e:f4 3. Lc4 Dh4+ 4. Kf1 b5 5. L:b5 Sf6 6. Sf3 Dh6 7. d3 Sh5 8. Sh4 Dg5 9. Sf5 c6 10. g4 Sf6 11. Tg1 c:b5 12. h4 Dg6 13. h5 Dg5 14. Df3 Sg8 15. L:f4 Df6 16. Sc3 Lc5 17. Sd5 D:b2 18. Ld6 L:g1 19. e5 D:a1+ 20. Ke2 Sa6 21. S:g7+ Kd8 22. Df6+ S:f6 23. Le7 matt. (Zwei Mal überprüft; nichts ärgerlicher als eine Notation mit Fehlern. Hoffentlich stimmt alles.)              

 

 

 

 

 

 

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