Der namenlose Tag
Giovanna sieht jeden Abend einen Film, und wenn wir zusammen sind, tun wir das zu zweit. Nur welchen? Die Entscheidung ist leicht, da 90 Prozet der Sendungen in meinen Augen Müll ist; bleiben drei oder vier Filme, man entscheidet intuitiv (Handlung, Darsteller, Regisseur), und bei Der namenlose Tag sagte ich ja und stieß auf keine Einwände.
Geht natürlich um das manipogo-Thema Tod in dem Film, und erst später wurde mir klar, dass ihn Volker Schlöndorff 2017 gedreht hatte. Er ist 1939 geboren und zählt neben Schroeter, Fassbinder, Wenders und Herzog zu den wichtigsten Regisseuren des neuen deutschen Films, der sich in den 1970-er Jahren weit über die Klamotten der unmittelbaren Nachkriegszeit erhob und seine Gegenwart reflektierte; und auch in Literatur und Lyrik kam es zu einer längst fälligen Erneuerung.
Jakob Franck lebt in Erfurt und musste zuletzt — vor der Pensionierung — Todesnachrichten überbringen, weil seine Kollegen damit nicht zurechtkamen. Auch pensioniert macht er damit weiter. Thomas Thieme als Franck trägt Bauch und Bart und meist eine schwarze Lederjacke. Er kommt daher wie ein gutmütiger, argloser Teddy, der aber, nachdem er brav gefragt hat »Wollen wir uns nicht vielleicht vorher setzen?«, einen Satz aussprechen muss, der die Welt seiner Gesprächspartner in Stücke gehen lässt. Todesbote sein ist ein entsetzlicher Job. Das Faktum, dass da ein geliebter Mensch plötzlich gestorben und nicht mehr da ist, bleibt ein Faktum und lässt sich nicht nett verpacken.
Der Satz, in den sich die traurige Nachricht kleidet, wird zum symbolischen Fallbeil. Doch Sprache und Bote sind nur Mittler; man wird sie nicht für das Drama verantwortlich machen können. Die Katastrophe ist eingedrungen ins Bewusstsein, hat alles verwüstet, und nun beginnt der Neuaufbau. (Rechts: ein Bild, das ich 2007 in Erfurt schoss.) Doris Winther schreit nicht und weint nicht, als sie erfährt, dass ihre Tochter Esther sich angeblich das Leben genommen hat; sie klammert sich an Jakob Franck, legt ihren Kopf an dessen Brust, und so stehen sie zwei Stunden lang. Vielleicht fühlte sie — an der Seite eines neurotischen, verständnislosen Mannes lebend — sich zum ersten Mal heimgekommen, ruhte sich aus, tankte Kraft. Diese Szene war schon einmal überraschend und überzeugend.
Das Buch stammt vom Krimiautor Friedrich Ani, der 21 Romane um dem Kommissar Tabor Süden geschrieben hat. Dieser surreale Name dreht die Reihe hinaus aus den üblichen Kolportage-Krimis und zeigt, dass Krimileser weit zu gehen vermögen: Sie können sogar mit einem Namen leben, der mit der Realität nichts zu tun hat. Aber hier: der namenlose Tag. Doris‘ Mann glaubt nicht an den Selbstmord seiner Tochter, Franck soll das untersuchen und fängt Feuer. Hat man Esther im Stich gelassen? Wie lebte sie, was ging in ihr vor? Da schaute sich der damals 78-jährige Regisseur in der Jugendszene um. Das fand ich auch interessant, wie 15- bis 20-jährige heute leben.
Jakob Franck besucht Doris‘ Schwester in Berlin (Ursina Landi spielt beide Schwestern, unsere geliebte Doppelrolle), nachdem sich Doris Winther das Leben genommen hat. Bei Esther war es übrigens nicht Selbstmord … Aber mir war das zuviel. Ich finde, man darf dieses Thema nicht zu sehr in den Mittelpunkt stellen, der Nachahmungseffekt ist zu gefährlich. Da handelte Schlöndorff verwantwortungslos, scheint mir. Für den Beitrag Ausweglos hatte ich übrigens herausgefunden, dass es im Jahr 2000 in Deutschland noch 500 Morde gab, 20 Jahre später nur mehr 245. Trotz all der Krimis! Doch die Zahl der jährlichen Selbstnorde bleibt immer gleich: etwa 9000.
Noch ein Kritikpunkt: Jakob Franck legt sich ins Bett, fällt in Trance, blickt an die Decke und sieht die handelnden Personen eines Falles, und nicht selten sah er da den Täter! Man hört seine Stimme: »Meine Intuition hatte mich nicht getrogen …« Ich weiß nicht, wie das bei Ani im Buch steht. Ach was, Intuition! Warum kann man das Paranormale nicht beim Namen nennen, wenn es das Drehbuch so nahelegt? Kommissare können überirdische Eingebungen haben, wenn sie sich andauernd mit einem Fall beschäftigen. Die Pathologen reden mit den Toten, die auch manchmal antworten. Der deutsche Film hat keine Probleme mit Sex und Gewalt, mit dem Handgreiflichen also, aber jenseits des Begrifflichen tut er sich schwer. Das ist begreiflich.