Waltraut Weigold

Ich schreibe normalerweise nicht über meine Arbeit im Altenheim, doch heute will ich eine Ausnahme machen. Wir hatten ein Jahr lang eine Bewohnerin, die mir ans Herz gewachsen war und die vor zwei Monaten gestorben ist, im gesegneten Alter von 96 Jahren. Sie hieß Waltraut Weigold, stammte aus Berlin und war eine sehr gute Malerin, doch mehr wusste ich nicht über sie. Ich möchte ihr ein kleines Denkmal setzen.

Sie war hager, und ihr Gesicht wirkte abgezehrt wie das einer alten Indianerin. Vermutlich hatte sie slawische Vorfahren, und sie erinnerte mich stark an meinen alten Freund Lothar Sobczak, einen einerseits harten, dann aber wieder sensiblen Journalisten mit russischen Wurzeln, der vor zehn Jahren in Spanien starb.

Frau Weigold stapfte unermüdlich mit ihrem Rollator den Flur entlang. Wenn ich eintrat, traf ich erst einnal sie. Sie nahm meine Hände und sagte »kalte Hände«, und manchmal rieb sie nach Eskimo-Art ihre Nase an der meinen und grinste dabei dämonisch, denn sie hatte im Unterkiefer nur noch einen Zahn. Dann erklärte sie: »Ich muss wieder laufen.« Sie hielt an einem Stuhl an, wischte mit der Hand über Lehne und Polster und sagte: »Zweiundvierzig.« Manchmal sagte sich auch »sieben, acht«.

20211215_175627Wenn es zum Abendessen ging, versuchte ich sie abzupassen und in den Speisesaal zu lotsen. Dann schaute sie hinein und bemerkte: »Huch, da sind viele Leute. Lassen Sie mich laufen.« Das sagte sie manchmal ziemlich streng, mit diesem Berlinerisch. »Ich laufe weiter. Lassen Sie mich!« Dann stellten wir ihr das Essen auf die Anrichte im Flur, und ich überredete sie, einen Schluck zu trinken. Manchmal gelang es auch, sie in ihre Ess-Ecke zu dirigieren, und dann langte sie auch zu.

SDC10530Alle waren schon im Bett, nur sie bewegte sich unermüdlich den Flur entlang. Dann konnte man sie in den Aufzug lotsen und sie im zweiten Stock weiter laufen lassen.

Im Bild links hat sie einen richtig traurigen Dostojewski-Blick: wie Nastasja Filipowna im Altenheim. Manchmal sagte sie: »Mein Name ist Waltraut Weigold.« Oder sie sagte: »Ich bin Waltraut Weigold.« Einmal, daran erinnere ich mich gut, saß sie vorn im Vorraum, und die Sonne beleuchtete sie. Da breitete sie die Arme aus und rief: »Ich bin!« Das war so schön, es war eine Bekundung von Lebensfreude und Existenz. Das Wunder, hier zu sein! Immer noch hier zu sein! Ich bin!

 

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