Vergib mir

Ich wollte mal wieder über Vergebung schreiben, kam aus der Arbeit heim, und vor meiner Haustür befand sich ein Stapel Bücher. Der Titel des obersten las sich Vergib mir. Mein Plan schaute mich an. Ich hatte darüber nachdenken wollen, dass sich Liebende bei der Trennung oft um Vergebung bitten. Sie wollen keinen Groll hinterlassen und keine offene Rechnung, um befreit neu anfangen zu können.

9783442738489-deEine Erklärung gibt es: Ich hatte meine liebe Nachbarin Anneliese, die eifrige Leserin, gebeten,, mir noch den Turgenjew zurückzugeben, den bräuchte ich auch; wofür, wusste sie nicht. Sicher hat sie ohne nachzudenken den Bücherstapel hingelegt. Wer weiß, vielleicht wusste sie etwas? Wir wissen mehr, als wir wisssen. Noch dazu war auf dem Umschlagbild eine Frau mit Koffer: eine Trennung womöglich? Das war jedenfalls toll, ich dachte an sie, und dann rief sie auch noch an, um mir zu sagen, dass sie die Bücher hingetan hätte, was sie höchst selten tut.

Auf Youtube hatte ich Anfang März den Film Brief Encounter (Kurzes Treffen) von David Lean gesehen, der aus dem Jahr 1945 stammt. Filmkritiker zählen ihn zu den besten englischen Filmen aller Zeiten. Laura (Celia Johnson) ist verheirtet und hat zwei Kinder. Am Bahnhof lernt sie zufällig den Arzt Alec (Trevor Howard) kennen (er hilft ihr, einen Fremdkörper aus ihrem Auge zu entfernen), der ebenfalls verheiratet ist. Sie kommen sich näher, auch wenn Laura gegen ihre Gefühle für Alec ankämpft. Eine wunderschöne, leichtee Liebesgeschichte bahnt sich an und entfaltet sich. Sie küssen sich und lieben einander (ob fleischlich, wird nicht klar), und alles drängt auf den Höhepunkt hin, der nur heißen kann: Zusammensein oder Trennung. Sie entscheiden sich für die Trennung (wie Dona in Frenchman’s Creek).

Alec wird als Arzt nach Südafrika gehen und seine Familie mitnehmen. Laura steht im abfahrbereiten Zug, Alec draußen, und er sagt:

BriefEncounter-TrainWindow»Du bist nicht verärgert über mich, oder? Vergib mir.« — »Dir vergeben — für was?« — »Für alles. Erst mal dafür, dass ich dich getroffen habe. Dafür, dass ich das Ding aus deinem Auge entfernt habe. Dass ich dich geliebt habe. Dass ich dir so viel Kummer gemacht habe.« — »Ich vergebe dir, wenn du mir vergibst.«

Dann rollt der Zug aus dem Bahnhof.

In der Erzählung Rauch von Iwan Turgenjew (1818-1883) verlieben sich Liwinow und Irina in Baden-Baden ineinander. Die Geschichte spielt im Sommer 1862. Irina kennt Litwinow aus der Jugend, hat sich aber, ohne sich ihrer Zuneigung zu ihm klarzuwerden, verheiratet. Man fürchtet schon, dass Litwinow sich nicht traut, sich ihr zu nähern (oder fürchtete nur ich es?), aber die Liebesgeschichte beginnt. Sie lieben sich sehr, und Litwinow schlägt ihr vor, von ihrem Mann wegzugehen und gemeinsam in Frankreich zu leben. Sie soll sich entscheiden — und sagt nein. In einem Brief erklärt sie es Litwinow.

Ich kann nicht mit Dir fliehen, ich habe nicht die Kraft, es zu tun. Ich spüre, wie schuldig ich vor Dir bin; meine ganze Schuld ist noch größer als die erste — ich verachte mich, meinen Kleinmut, ich überschütte mich mit Vorwürfen, aber ich kann mich nicht ändern. (…) Ich erschaudere, ich beginne mich selber zu hassen, doch ich kann nicht anders vogehen, ich kann nicht, ich kann nicht. … Oh mein Freund, halte mich für töricht, für ein schwaches Weib, verachte mmich, aber verlass mich nicht, verlass Deine Irina nicht! (…)

Ach, diese russische Selbstzermarterung und -zerfleischung! Er solle in ihrer Nähe leben und sie lieben, wie sie sei, und sie habe keine ruhige Minute, bis sie ihn nicht wiedersehe … Der zerstörte Litwinow antwortet mit einem Billet:

Ich weiß nicht, ob Sie jetzt schuldiger vor mir sind als damals; … Ich reise morgen früh mit dem ersten Zug ab. Leben Sie wohl, werden Sie glücklich … Wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehen.

Doch sie sehen sich wieder: wie bei Brief Encounter auf dem Bahnhof. Diesmal jedoch reist der Mann ab und bietet ihr noch einnmal den Platz neben sich an. Irina aber kann nicht; sie läuft weg und verschwindet »im milchigen Gebräu des Nebels …, der für das Klima des Schwarzwaldes in den ersten Tagen des Herbstes so eigentümlich ist«.

Dennoch hat er ihr vergeben und wünscht ihr Glück. Wir haben alle Unrecht getan und uns ist Unrecht angetan worden; wir müssen es verarbeiten und vergessen oder die Aussprache suchen. Wir wollen keine offenen Rechnungen zurücklassen, wohin immer wir gehen oder ob wir bleiben. Unverarbeitete Dinge drücken aufs Gemüt. Viele Menschen haben Mühe zu sterben, weil sie noch eine Rechnung offen haben. Wenn ihnen vergeben wird, sind sie frei. Hinter uns soll reine, unschuldige Luft sein.

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