Fünfzehn

Nächstes Jahr wird Reiner Kunze 90. Mit seiner Frau lebt er bei Passau. Damals in der DDR war er, der Lyriker, eine Stimme, trat nach dem Überfall der Russen auf die Tschechoslowakei 1968 aus der Partei aus, erhielt Schreibverbot und durfte 1977 mit seiner Familie endlich ausreisen. Das wunderbare kleine Buch Die wunderbaren Jahre, dessen Manuskript in den Westen geschmuggelt wurde, avancierte zum Bestseller.

1978 kam das Buch heraus. In zwei kleinen Stücken stellt uns Reiner Kunze seine 15-jährige Tochter vor: fasziniert, irritiert, mit dem Blick des Außerirdischen fast. Das alles hat mich an damals erinnert (so um 1975): die Jeans, die langen Schals, Pink Floyd und Led Zeppelin superlaut. In der Deutschen Demokratischen Republik war es anscheinend ähnlich. Kunze hat das wunderbar getroffen, und er war ein verständnisvoller Vater und ein wohlwollender Beobachter.

SDC10855Eine Bemerkung muss ich noch loswerden, eine Beobachtung in Le Locle, als wir gerade angekommen waren und an einem besonnten Tisch des Markt-Cafés saßen. Da kam ein Mädchen raschen Schrittes vorbei, das ich wie eine Erscheinungg anstarrte. Es war Mulattin mit olivfarbenem Teint und mochte 15 bis 17 Jahre alt sein. Ihre imposante blonde Mähne hatte sie als Halbkreis auf ihrem Rücken drapiert, über die Schultern hielt sie ein schmales weißes Cape fest, und unten trug sie sehr eng anliegende Hosen von fleischfarbenem Stoff, und auf ihren Turnschuhen glitt sie sozuagen vorbei und entfernte sich. Welch spektakuläre Erscheinung! In Freiburg könnte ich zehn Jahre in der Fußgängerzone sitzen, ohne je solch ein Geschöpf zu erblicken! Meine Begleiterinnen hatten sie nicht wahrgenommen. (Links: ein Model in einem Garten von Le Locle)

Nun also Kunze:

Fünfzehn

Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon ein einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal hingegen ähnelt einer Doppelschleppe: Lässig um den Hals geworfen, fällt er in ganzer Breite über Schienbein und Wade. (…) Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen jeder ihrer Freunde und jede ihrer Freundinnen unterschrieben haben. Sie ist fünfzehn Jahre alat und gibt nichts auf die Meinung uralter Leute  — das sind alle Leute über dreißig. (..)

Wenn sie Musik hört, vibrieren noch im übernächsten Zimmer die Türfüllungen. (…) Auf den Möbeln ihres Zimmers flockt der Staub. Unter ihrem Bett wallt er. Dazwischen liegen Haarklemmen, ein Taschenspiegel, Knautschlacklederreste, Schnellhefter, Apfelstiele, ein Plastikbeutel mit der Aufschrift »Der Duft der großen weiten Welt«, angelesene und übereinandergestülpte Bücher (Hesse, Karl May, Hölderlin), Jeans mit in sich gekehrten Hosenbeinen, halb- und dreiviertelgekehrte Pullover, Strumpfhosen, Nylon und benutzte Taschentücher. (Die Ausläufer dieser Hügellandschaft erstrecken sich bis ins Bad und in die Küche.) Ich weiß: Sie will sich nicht den Nichtigkeiten des Lebens ausliefern. (…)

Zwischenakt

Sie kommt barfuß von draußen, öffnet, das Bein gestreckt, mit einem Zehenhieb auf die Klinke die Tür zu ihrem Zimmer, angelt sich mit dem kleinen Finger einen Büstenhalter aus der Lade, hält ihn hoch, bis die mit ihm verschlungenen Wäschestücke abgefallen sind, und schreitet — ein Wohnungsbeben — in die Küche. Sie stemmt den Wasserkessel unter den Hahn, so dass es den Anschein hat, als weiche dieser in die Wand zurück. Während der Kessel auf dem Gasherd ausvibriert, stillt sie ihren Durst und jagt mit der flachen Hand den Korken in den Flaschenhals. Dann wartet sie. (…)

Eine Spur aus verschüttetem Wasser und Straßenstaub hinterlassend, zieht sie sich ins Bad zurück. (…) Nach einer Stille von fast besorgniserregender Dauer lässt sie durch ein schussartiges Schließgeräusch erkennen, dass ihre Toilette beendet ist. Wie vordem trägt sie den an seinem Grunde rosa-hellblau-weißgestreiften Pullover, ihre auf ungezählten Treppenstufen, Bordsteinen und Schulbänken graugescheuerten Blue jeans und die Sonnenbrille. Sie hält die Finger gespreizt und fährt in die Sandaletten mit der Grazie einer Balletteuse, damit der signalrote Nagellack nicht verwischt. Halb schon im Hausflur sagt sie »Ciao!« und »Vielleicht sehen wir uns dort?«, womit sie das in dreieinhalb Stunden beginnende Konzert meint.

Was für eine Performance! Marcela hieß und heißt die Tochter von Reiner Kunze und seiner Frau, und man wünscht sich, sie würde ewig fünfzehn Jahre alt sein; sie möge sich vom Leben nicht zermürben haben lassen. Enttäuscht und verbittert kann man nur sein, wenn man Erwartungen hatte: wie ein geglücktes Leben ausschauen soll. Am Ende hat alles irgendeine Form angenommen, und wie wir darüber denken, entscheidet über sie. Wir triumphieren über die Nichtigkeiten des Lebens. »Und das Leben bleibt siegreich«, heißt es bei den gnostischen Mandäern. Hatte ich am Ende eines Beitrag schon einmal zitiert. Hat mich anscheinend beeindruckt.

 

 

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