Maskenball

Wir erinnern uns an das Jaspers-Urteil, alles Seelenleben sei »die ständige Synthese von Gespaltenem« und das »Zusammenhalten des zur Trennung Tendierenden«. Karl Menninger hat unser Bewusstsein mit einer Theaterbühne verglichen mit ganzen Gruppen wilder Schauspieler in den Kulissen, die nur darauf warten, aufzutreten — und oft im unpassendsten Moment. Peter McKellar meint, wir glichen eher einer Firma. Das wollen wir wissen!

In dem Buch Abnormal Psychology führt McKellar aus, statt mit einer Theaterbühne

… könnten wir die Persönlichkeit mit einer großen und komplexen sozialen Organisation vergleichen. In ihr konkurrieren zahlreiche Gruppen und ehrgeizige Individuen, die ihre eigenen Interessen vertreten. Wie in solchen Institutionen üblich, gibt es wenig direkten Kontakt zwischen der Chefetage und den Mitarbeitern. Oft fehlt die Empathie zwischen Teilen des Ganzen, was an ungenügender oder nichtexistenter Kommunikation zwischen ihnen liegt. Die Individuen und Gruppen wissen nichts voneinander und manchmal nicht einmal von der Existenz mancher Teams. So könnte eine Persönlichkeit aussehen.

osterinsel2Wie eine Firma also. Nicht nur zwei Teile, sondern viele. In der Psychologie gibt es ein entsprechendes Krankheitsbild, das Multiple Personality Disorder (MPD) heißt, was jedoch in die Irre führt. Die Persönlichkeit ist das Ganze, die vielleicht aus mehreren Personas besteht, und eine Persona (das heißt übrigens Maske) war eine Rolle in Schauspielen der Antike. MPD wurde bis 1920 häufig diagnostiziert, dann trat eine Pause bis 1980 ein, wonach es zu einem regelrechten Boom kam mit vielen Büchern darüber. Acht von ihnen hatte ich damals am Freiburger Institut gelesen und bediene mich aus meinen Exzerpten. MPD ist die ultimative dissoziative Störung.

In der Regel gelingt es uns, aus vielen Tendenzen und Widersprüchen eine stimmige Persönlichkeit zu bilden. Wer sich aufspaltet, ist nicht normal, schrieb schon Jaspers; die Ursache dafür sind meist Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. 80 bis 90 Prozent der MPD-Patientinnen wurden als Kinder sexuell missbraucht. In meinen damaligen Büchern waren die Leidenden meist Frauen (auf 5 oder 9 Frauen kam ein Mann) im Alter von 28 bis 35 Jahren. Ein Autor schrieb:

MPD ist ein kleines Mädchen, das sich vorstellt, dass der Missbrauch jemandem anderen zustößt.

DSCN1049Der Geist fliegt weg und überlässt den Körper seinem Peiniger, doch damit ist ein Schema gelernt worden. Bei jedem neuen Trauma könnte ein neuer Persönlichkeitsanteil entstehen, ein »alter«, wie es im Englischen heißt: ein Anderer, von alter ego stammend, dem anderen Ich. Jede zweite Prostituierte wurde in der Kindheit sexuell missbraucht (und die MPD-Patientinnen waren 20 Prozent Prostituierte). Begleitet wird die Störung von Selbsthass (und Suizidversuchen), Depressionen, Stimmungsschwankungen, dem Gefühl von Zeitverlust und der Erfahrung von »fugues«: Plötzlich befindet sich die Patientin an einem Ort und wusste nicht, wie sie dahin gekommen war.

Ein berühmter Fall war der von Ansel Bourne (1826-1910), einem Zimmermann, der im Januar 1887 in einer ihm fremden Stadt unter dem Namen Brown ein Geschäft eröffnete und zwei Monate später »aufwachte« und meinte, es sei immer noch Januar. Der Psychologe William James beschrieb seine Geschichte. Übrigens soll Paracelsus 1646 den ersten Fall von Multiple Personality Disorder geschildert haben.

Erst kürzlich, Ende Mai, stand in den Zeitungen, dass in Deutschland jeden Tag 40 Kinder sexuell missbraucht würden — und die Dunkelziffer sei enorm hoch. Und dazu kommen die Kinder, die verprügelt würden oder seelische Grausamkeit erfahren. Vor 30 Jahren wurde in den US-amerikanischen Büchern einmal erwähnt, dass bis zu 30.000 Kinder jedes Jahr (in Deutschland) so geschlagen werden, dass sie ins Krankenhaus müssen und dass nur 300 Schläger bestraft würden. Es wurde geschätzt, dass in unserem Land jedes Jahr 200.000 Kinder Gewalt sexueller oder körperlicher Art erleiden. Hoffen wir, dass die heutige Zahl darunter liegt.

DSCN2019Die geschundenen Frauen hatten meist von 8 bis 16 Teilpersönlichkeiten, die nichts voneinander wussten und sich abwechselnd »einschalteten« und die Kontrolle der Persönlichkeit übernahmen. Manchmal kam es zu einem raschen Switching (Abwechseln der Personas). Jede hatte sich entwickelt, hatte einen eigenen Namen und bestimmte Eigenheiten. Dem Therapeuten (der Therapeutin) fällt die Aufgabe zu, die Anteile zusammenzubringen, sie also größtenteils zum Aufgeben zu bewegen. Eine Patientin kann so anstrengend sein, dass sie die ganze Zeit des Therapeuten (oder der Therapeutin) in Anspruch nimmt.

Da gab es Therapeuten, die in der Nacht zehn Mal telefonisch angerufen wurden — und immer von einer anderen Teilpersönlichkeit. Manche MPD-Patientinnen haben 35 »Alters« oder mehr. Wer behält da noch den Überblick? Man muss ein schwarzes Brett erfinden, auf dem die Personas ihre Wünsche notieren, und man muss Regeln aufstellen. Das Krankheitsbild gibt es immer noch, und immer noch meint man, Therapeuten seien mitverantwortlich für die Erschaffung von Fremdpersönlichkeiten. Dahinter steckt wohl, dass man sexuellen Missbrauch in der Kindheit nicht wahrhaben will, der arme kleine Wesen zu einem lebenslangen Martyrium verurteilt.

 

 

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