Starke Ausstrahlung

Ich unternahm eine einwöchige Fahrradtour durchs südöstliche Frankreich (Franche-Comté) und hatte ein dickes Buch mit: Les Misérables von Victor Hugo (1802-1886), 1862 erschienen. Die Elenden heißt es auf Deutsch. Allein dieser erste Band ist 534 Seiten lang, unf auf den ersten 100 wird Charles-François-Bienvenu Myriel geschildert, Bischof von Digne von 1806 bs 1815, ein heiliger Mann.

375px-Mgr_Bienvenu_par_Gustave_BrionVertreter der katholischen Kirche hielten Hugo vor, die Darstellung sei unwahrscheinlich, und der Autor gab ihnen recht: Derart gut wie Myriel ist man in der Kirche nicht; der Bischof ist das Idealbild des Christenmenschen, ach was: des Menschen überhaupt, wie er sein sollte. Wäre das Christentum (oder das Leben) von allen gelebt worden wie von ihm, unsere Welt wäre das Paradies. Denn Myriel ist gutmütig, demütig, freigebig den Armen gegenüber, vertrauensvoll und stets vergebungsbereit.

Erst wollte ich mich auf ihn konzentrieren, den Bischof, doch dann kam eine unglaubliche Stelle, auf die mein Artikel nun zusteuert. Denn nach etwa 80 Seiten taucht der erste Elende auf: Jean Valjean. Er ist Mitte 40 und hat 19 Jahre im Zuchthaus verbracht — und die ersten fünf Jahre, weil er, der Hungrige, ein Brot hatte stehlen wollen. Dann versuchte er auszubrechen: Strafverlängerung. Vier Mal versuchte er zu fliehen, und am Ende summierten sich die zusätzlichen Strafen auf 19 Jahre. Er kommt frei mit 109 Francs in der Tasche. Er ist ein Ex-Zuchthäusler mit dem berüchtigten gelben Pass. An einem Wintertag weist ihn ein Gastwirt fort, und der nächste ebenfalls. Er will essen und schlafen, der Jean Valjean, und muss doch hinaus in die Kälte.

Schließlich landet er beim Bischof, der ihn mit »Monsieur« anspricht und ihn an seinem Abendessen teilhaben lässt, ihm sogar ein Bett anbietet. Bischof Myriel sagt:

afrika2Dies hier ist nicht mein Haus, es ist das Haus Jesu Christi. Wer diese Tür durchschreitet, von dem will man nicht wissen, welchen Namen er, sondern ob er einen Schmerz mit sich trägt. Sie leiden; Sie haben Hunger und Durst; Sie sind willkommen. Und danken Sie mir nicht dafür, dass ich Sie bei mir aufgenommen habe. … Sie kommen von einem Ort der Traurigkeit. Hören Sie. Im Himmel herrscht mehr Freude über das tränenüberströmte Gesicht eines Sünders als über die weißen Gewänder von hundert Gerechten. … Wenn Sie von jenem Ort mit Gedanken des Wohlwollens, der Sanftmut und des Friedens kommen, sind Sie mehr wert als wir alle.   

Valjean ist gerührt, doch die Silberleuchter der Tafel gehen ihm nicht aus dem Sinn. Er klaut sie und verschwindet, wird aber von den Gendarmen geschnappt und zum Bischof zurückgebracht. Was sagt der Bischof?

Ich habe Ihnen doch diese Kerzenleuchter mitgegeben, sie sind aus Silber, und ich dachte, Sie könnten 200 Francs dafür bekommen.

Der Ex-Sträfling ist wieder frei, und der Bischof macht ihm klar:

Jean Valjean, mein Bruder, ihr gehört nicht mehr dem Bösen, sondern dem Guten. Es ist Eure Seele, die ich Euch abkaufe; ich entziehe sie den schwarzen Gedanken und dem Gefühl des Verlorenseins und gebe sie Gott!

Der verwirrte Gast geht davon, unterwegs verliert ein kleiner Junge ein Geldstück, und Valjean tritt mit dem Fuß darauf und jagt den Kleinen fort, wonach ihn bald Reue überkommt. Warum hat er das getan? Ein Rückfall. Seine Gewissenserforschung wird intensiv und führt zu einer Art Erleuchtung, die Verdrängung und Verschmelzung und Reinigung ist; man weiß nicht, wie man es beschreiben soll.

DSCN2952Er sah in einer mysteriösen Tiefe eine Art Licht, das er zunächst für eine Fackel hielt. Als er dieses Licht aufmerksamer betrachtete, das da seinem Gewissen erschien, erkannte er, dass es eine menschliche Form hatte und dass diese Fackel der Bischof war.
Sein Gewissen beschaute sich nach und nach diese beiden Männer, die vor es gestellt waren, den Bischof und Jean Valjean. … Durch eine der einzigartigen Wirkungen, die diesen Ekstasen eigentümlich sind, vergrößerte sich in dem Maße, in dem seine Träumerei sich verlängerte, der Bischof und erstrahlte in seinen Augen, während Jean Valjean sich verkleinerte und ausgelöscht wurde. Ab einem gewissen Moment war er nicht mehr als ein Schatten. Plötzlich verschwand er. Nur der Bischof blieb bestehen. 
Er füllte die ganze Seele dieses Elenden mit seiner großartigen Strahlung. 

Jean Valjean weinte lange und kehrte zum Haus des Bischofs zurück, um vor diesem auf den Knien zu beten.

 

Illustrationen: Oben rechts Bischof Myriel, gemalt 1862 von Gustave Brion (1824-1877); Mitte: ein Essraum in einem Kloster deutscher Benediktiner in Tansania (1984); unten: Abendstimmung bei Zürich, Nähe Flughafen.

 

 

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