Leben der Kunst

Abbild und Abziehbild, Wandbild und Standbild … Oder sollen wir sagen: Kunst und Leben? Oder: wie Vorbild und Abbild einander spiegeln und aufeinander reagieren? Das ist das Thema von Das Wandbild, und zwei weitere Beispiele sind mir da zugeflogen (Nummer zwei morgen), die darauf aufbauen, so dass ich schon damit liebäugele, daraus eine Serie zu machen. — Ist auch ein Beitrag zu Maria Himmelfahrt heute.

Das erste Beispiel ist eine Novelle von Luigi Pirandello (1867-1936), dem 1933 der Literatur-Nobelpreis zuerkannt wurde. Sie nennt sich Wirkung eines unterbrochenen Traums (Effetto di un sogno interrotto). Veröffentlicht wurde sie im Corriere della Sera am 9. Dezember 1936, einen Tag vor dem Tod des sizilianischen Dramatikers.

Der Erzähler bewohnt das Haus eines Bekannten, der damit seine Schulden bei ihm abzahlte. Allerdings ist der Bekannte ausgewandert und seit drei Jahren verschwunden. Das Haus ist geräumig, aber voller Möbel, etwas verstaubt und nicht richtig gemütlich. In einer Kammer hängt ein Bild, das ihn beeindruckt: Die duldende Magdalena. Das Bild unten kommt dem Gemälde nahe: Magdalena liegt in einer Grotte und liest beim Licht einer Öllampe ein Buch, und der Betrachter notiert:

Eins ist sicher: Das Gesicht, das beeindruckende Volumen der rötlichen, aufgelösten Haare, die entblößte Schulter und der entblößte Busen beim warmen Licht der Öllampe sind sehr schön.

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Als nächstes meldet sich ein Antiquitätenhändler an, der einen Käufer für das Gemälde hat, der jeden Preis zahlen würde. Beim nächsten Besuch bringt er ihn mit: einen etwa 40-jährigen schmalen und kahlen Mann, der, als er das Bild sieht, in Tränen ausbricht. Es stelle seine Frau dar, die vor einem Monat gestorben sei. Und er warnt: Er könne es nicht zulassen, dass er, der Erzähler, allein mit seiner halbnackten Frau bleibe. Er verbiete ihm, sie anzusehen! Jedoch: Das Bild ist nicht zu verkaufen; eigentlich gehört es und das ganze Haus ihm ja nicht.

Dann, in den frühen Morgenstunden, kommt der Traum, den ein plötzliches Krachen beendet. Der Erzähler argwöhnt, vielleicht hätten es die Traumgestalten, derart gestört, nicht rechtzeitig geschafft, in den Traum zurückzukehren — denn das Bildnis setzt sich irgendwie neu zusammen, und ein Mann setzt sich auf den Diwan: der Liebhaber des Bildes, gekleidet in einen Schlafanzug von himmelblauer Seide mit weißen und blauen Streifen. Er verblasst und verschwindet. Und mehr:

Ich will nicht erklären, was sich nicht erklären lässt. Niemandem ist es je gelungen, ins Geheimnis der Träume einzudringen. Tatsache ist, dass ich, als ich verstört die Augen hob, um das Gemälde auf dem Kaminsims zu betrachten, sah, dass ich in völliger Klarheit sah, wie die Augen der Magdalena lebendig wurden, wie sie ihre Lider hob und von der Lektüre aufblickte und mir einen wachen Blick zuwarf, einen ironischen Blick voll von einer zarten, dennoch teuflischen Bosheit.

Der Erzähler verlässt das Haus. Er eilt zum Antiquitätenhändler und bietet ihm an, deas ganze Haus samt Einrichtung zu einem günstigen Preis zu vermieten. Gemeinsam gehen sie danach in das Hotel, in dem der Mann residiert, und er trägt ebenden Schlafanzug, in dem ihn der Erzähler gesehen hat. Seine Frau sei aus dem Bild ausgestiegen und wieder hineingegangen, ruft er ihm entgegen; in diesem Schlafanzughabe er ihn gesehen, woher habe er ihn kennen können? Er wolle in dem Haus nicht mehr bleiben, in dem Mann und Frau zusammenkommen und wo die Frau auf dem Bild die Augen öffnet und schließt! Der Antiquitätenhändler könnte zufrieden sein, will aber eine Erklärung und brummelt nur: Halluzinationen! Pirandello:

So sind diese nüchternen Männer, die angesichts eines Faktums, das sich der Erklärung entzieht, gleich einen Begriff hervorzaubern, der nichts sagt und mit dem sie sich zufriedengeben. — Halluzinationen. 

 

 

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