Minnedienst

Dr. Sonne sprach also, wie Musil schrieb. Darum muss es heute ein Auszug aus dem Mann ohne Eigenschaften sein, womit die Hauptfigur Ulrich gemeint ist, rational denkender Mensch wie Musil selbst, dem die Liebe aber nicht fremd ist. Ulrich denkt also nach, was er beständig tut. Er denkt über Wahrheit und Liebe nach, und in Himmel und Hölle schreibt Swedenborg, die Wahrheit entspreche dem Licht der Sonne, die Liebe hingegen deren Wärme, weshalb sie der Wahrheit übergeordnet ist (Morgen dann Swedenborg über dieses Thema!). Ich gebe den Text normal wieder, kursiv liest sich schlecht. (Hier passt wieder Spandau Ballet hin mit True.)

Er war damit aber nochmals auf den Gegensatz von Wahrheit und Liebe zurückgekommen, der ihm kein neuer war. Es fiel ihm ein, wie oft in den letzten Wochen Agathe über seine, für ihren Geschmack noch viel zu pedantische Wahrheitsliebe gelacht habe; und manchmal mochte sie davon auch Kummer gehabt haben! Und plötzlich fand er sich bei dem Gedanken, dass es eigentlich kein widerspruchsvolleres Wort gebe als Wahrheitsliebe. »Denn man kann die Wahrheit auf Gott weiß wieviele Weisen hochstellen, bloß lieben darf man sie nicht, weil sie sich ja in der Liebe auflöst«, dachte er. Und diese Behauptung, ― keineswegs das gleiche wie die kleinmütige, dass die Liebe keine Wahrheit vertrage ― war für ihn ebenso vertraut-unvollendbar wie alles übrige.

Sobald einem Menschen die Liebe nicht als ein Erlebnis begegnet, sondern als das Leben selbst, mindestens als eine Art des Lebens, kennt er mehrere Wahrheiten. Der ohne Liebe Urteilende nennt das Ansichten, persönliche Auffassungen, Subjektivität, Willkür; aber der Liebende weiß, er ist nicht unempfindlich für die Wahrheit, er ist überempfindlich. Er befindet sich in einer Art des Enthusiasmus des Denkens, wo sich die Worte bis zum Grund öffnen. Das kann natürlich eine Täuschung sein, und Ulrich berücksichtigte es, die natürliche Folge allzu lebhaft beteiligten Gefühls. Wahrheit entsteht bei kaltem Blut; das Gefühl ist ihr abträglich, und sie dort zu erwarten, wo etwas »Sache des Gefühls« ist, gilt nach aller Erfahrung für ebenso verkehrt, wie Gerechtigkeit vom Zorn zu fordern.

Trotzdem war es unbezweifelbar, was die Liebe als »das Leben selbst« von der Liebe als Erlebnis der Person unterschied. Und Ulrich überlegte nun, wie deutlich doch diese Schwierigkeiten, die ihm die Ordnung seines Lebens darbot, immer mit diesem Begriff einer übermächtigen, sozusagen ihre Kompetenz überschreitende, Liebe zusammengehangen seien.

Von dem Leutnant, der ins Herz der Welt versank, bis zu dem Ulrich des letzten Jahres mit seiner mehr oder weniger überzeugenden Behauptung, dass es zwei grundlegend verschiedene und schlecht verschmolzene Lebenszustände, Ichzustände, ja vielleicht sogar Weltzustände gebe, waren die Bruchstücke der Erinnerung, soweit er sie sich zu vergegenwärtigen vermochte, alle in irgendeiner Form mit dem Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und gartenkampflosen Seelengefilden verbunden. In diesen Breiten lag auch die Vorstellung des »rechten Lebens«: so leer sie im hellen Verstandeslicht sein mochte, so reich wurde sie vom Gefühl mit halb geborenen Schatten erfüllt.

Es war ihm gar nicht angenehm, diese Bevorzugung der Liebe in seinem Denken so eindeutig anzutreffen; er hatte eigentlich erwartet, dass darin mehr und noch anderes zu gewahren sein müsste und dass Erschütterungen wie die des letzten Jahres ihre Bewegung nach verschiedenen Richtungen getragen hätten; ja, es kam ihm wirklich wunderlich vor, dass der Eroberer, dann der Moralingenieur, als die er sich in seinen Kraftjahren erwartet hatte, schließlich zu einem Minnenden und Minnesüchtigen ausreifen sollten.

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.