Flugverkehr (146): Der Drachen

Den Drachen gibt es wirklich, er kann fliegen, wenn er gut gebaut ist. Einen Drachen steigen lassen, das passt zum Herbst mit seinem häufigen Wind. (Hingegen der Drache, der nur existiert hat im Geiste.) Der Drachen von heute spielt eine Rolle in der gleichnamigen Erzählung von Patricia Highsmith (1921-1995), die uns immer zu einem maximal tragischen Schluss führt.

Walter ist ein vielleicht 14-jähriger Junge irgendwo in Nordamerika. Alles ziemlich normal und durchschnittlich — gleichzeitig aber besonders, wie überall. Sein Vater arbeitet, trinkt gern Scotch und hst Frauengeschichten; die Mutter ist eifersüchtig und trifft sich mit Freundinnen. Walter hatte eine kleine Schwester, Elsie, die mit knapp zehn Jahren an einer Lungenentzündung starb. Die Autorin erzählt das in der dritten Person, aber entschieden aus der Perspektive des Jungen, und interessant ist natürlich das, was unterschwellig mitschwingt. Das Leben nach dem Tod sei natürlich Quatsch, er mit Elsie reden, ha! Und doch geht er oft zum Friedhof und hat Elsie nicht vergessen. Walter hat einen Plan:

Wichtig war die Arbeit, die er da vor sich hatte, der große Drachen, und bis jetzt war Walter recht zufrieden. Es war der größte Drachen, den er je zu bauen versucht hatte. Ob er auch fliegen würde? 

Er kommt öfter mit dem Rad an Elsies Grab vorbei.

Ihr Grab lag ganz oben auf dem Hügel. Der Grabstein war weiß und oben gebogen wegen der Engelsgestalt, die auf der Seite lag und den einen Flügel leicht erhoben hatte. MARY ELIZABETH MCCREARY stand auf dem Stein … Darunter irgendwas von einem LAMM IN SEINEM ARM. Was für ein Quatsch!

Endlich ein Sonntag mit Sonne und starkem Wind. Den lästigen Besuch bei Großmutter Edna hatte Walter hinter sich. Nun fuhr er auf dem Rad, den rieisgen Drachen an der rechten Hand haltend, auf dem das Wort ELSIE prangte, hinaus aus der Stadt. Los geht’s.

Der rhombenförmige rötliche Drachen sah jetzt fröhlich aus, er wedelte ein bißchen in der blauen Leere und stieg immer höher. … Walter riss mit aller Kraft an der Schnur und legte sich zurück, bis sein Körper fast den Boden berührte. Dann zog ihn der Drachen langsam und sanft aufwärts und hob ihn von den Füßen. Walter bewegte die Füße, er meinte, er habe Boden unter sich, dann zog ihn der Drachen noch einmal, spielerisch und kräftig, als wollte er ihm zuwinkenm und Walter flog.

Baöd flog er über der Stadt, in der er wohnte und versuchte, sein Fluggerät nach Osten zu steiuern. Klappte nicht.

Der Drachen hatte offenbar eigene Vorstellungen von seiner Zielrichtung. … Walter war auch nicht so dumm zu denken, Elsies »Geist« sei vielleicht bei ihm, aber immerhin stand ihr Name auf dem Drachen, irgendwie fühlte er sich ihr nahe, und sekundenlang fragte er sich, ob sie vielleicht ahnte, dass er flog, dass ihn ein Drachen trug?

Er war nicht so dumm zu denken … doch was man nicht denken will oder ablehnt zu denken, nimmt dennoch negativen Raum ein; das denkt man doch. Denkt nicht an einen blauen Elefanten! Ein Kunstgriff der Literatur ist das, Unbewusstes hochdringen zu lassen, damit es niedergehalten werden kann. Ein Stück Meeresbläue, ein schlankes, weißes Schiff .

»Wollen wir nach Acapulco, Elsie?« sagte Walter laut und lachte dann.

Der Drachen aber wollte nach Nordosten. Schön das alles, bis die Menschen unten zu handeln beginnen. Ein Helikopter von der LUFTWACHT ist plötzlich über Walter, mit einer Art Angel versuchen sie den Drachen zu sich herzuziehen, in gefährliche Nähe der Rotorblätter. Walter ist wütend und weint vor Wut. Es wird gefährlich.

Der Drachen schaukelte irre, als sei er ebenso zornig wie Walter. Dann kam ein Aufschrei von den Menschen unten, und gleichzeitig sah Walter, wie der Drachen sich zur Hälfte zusammenfaltete. Das Querholz war durchgebrochen — weil der Idiot so daran gerissen hatte!

Dann geht es schnell nach unten, ein »Schrei, ein Ächzen wie ein tiefer Seufzer kam von den Menschen unten auf der Erde«, und Walter fiel.

In panischer Angst schrie er: »Elsie!«

Doch es gab keine Rettung, auch wenn er in einen Baum stürzte.

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