Guillaume Martin und Velozipedisches

Ich war vor kurzem bei der Arbeit und sah auf einem Fernsehgerät einen litauischen Radrennfahrer mit einer Wilier-Maschine (meine Marke!) bei einem Rennen dem Ziel entgegenfahren, 8,4 Kilometer fehlten noch, und ja, es war die Straßenweltmeisterschaft der Profis, traditionell spät im Jahr. Ich hatte dann woanders zu tun und vergaß alles; erst 5 Tage später schaute ich nach, wer gewonnen hatte … So weit bin ich weg vom Radsport.

Doch immer noch infiziert bin ich. An einem Sonntag Ende August war ich auch im Pflegeheim tätig und wusste, dass die Deutschland-Tour in nur 5 Kilometer Entfernung vorbeirollen würde. Die Fahrer würden die kurvige und leicht hügelige Strecke von Müllheim nach Staufen nehmen, und das Fernsehgerät im Erdgeschoß schaltete ich gerade rechtzeitig ein, um 16.30 Uhr, und dann war ich ganz aufgeregt und plapperte vor mich hin, jubelte und rief es allen zu: »Sie fahren gerade vorbei!«

Seltsame Erfahrung: Du schaust mit anderen auf den TV-Bildschirm wie vielleicht Millionen Menschen an Millionen verschiedenen Orten und siehst, was draußen geschieht, in der Außenwelt, und die Welt sieht, was du auswendig kennst: belchdie 90-Grad-Kurve in Zunzigen … die beiden 90-Grad-Kurven bei der Ortsdurchfahrt Britzingen …. den Anstieg unterhalb von Muggardt (70 Einwohner) mit den Mäuerchen und dem Blick übers Land … den Anstieg nach der Durchquerung Laufens, vorbei an der Großgärtnerei der Gräfin Zeppelin … Ach, wie schön! Unsere Gegend von oben, vom Hubschrauber! Sie fuhren dann bis kurz vor Freiburg, kürzten ab und nahmen im Regen die letzten 9 Kilometer unter die Räder, hoch zum Schauinsland! Andy Yates aus Großbritannien gewann die Etappe und die ganze Deutschland-Tour (Bild: eine Straße hier mit Blick auf den Belchen).

martinFrançois vom Veloclub Rehetobel wies mich dankenswerterweise auf einen interessanten Radprofi hin: Guillaume Martin, den Philosophen im Fahrerfeld. Journalisten schreiben ja ungeniert die härtesten Platitüden nieder, und so wurde Martin zum Nietzsche des Pelotons oder zum Platon des Pelotons. Martin wird nächsten Juni 30 Jahre alt und war immerhin 2021 Achter der Tour de France und Neunter der spanischen Vuelta. Das Buch Sokrates auf dem Rennrad hat er verfasst (2020) sowie Eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe (2022). Er sei, sagte mir kürzlich Constantin, »in aller Munde«.

Guillaume Martin studierte Philosophie an der Universität Nanterre. Laurant Fignon habe als Philosoph gegolten, sagte er, weil er eine randlose Brille getragen habe. Man wird leicht Philosoph in einem Pool junger, ruhmhungriger und körperbetonter Männer. Nietzsche kennt der Philosoph wirklich gut, vielleicht auch Schopenhauer (die Franzosen haben deutsche Philosophen immer verehrt, Hegel, Herder, Heidegger). Über das Doping schrieb er:

Die Konsequenz ist die Erschaffung von Mutanten. Als Gegenbewegung wird der authentische Sportler, der übernatürliche, wieder entdeckt werden. Er versucht, seine Grenzen einfach dadurch zu überschreiten, dass er mit ihnen spielt.

Einen schönen Spruch auf einem T-shirt sah ich bei einem Touristen auf dem Flughafen Lamezia Terme. So ungefähr:

A Whole Life Behind Bars.

IMG_2774Darunter war ein stilisierter Fahrradlenker abgebildet. Die Übersetzung lautet Ein ganzes Leben hinter Gittern oder hinter Schloss und Riegel, doch ein bar ist auch ein Stück Seife und bedeutet auch Stange und Stab, und weil bars eben auch den Fahrradlenker bezeichnet, macht das Spaß: Our Life Behind Bars.

Das Straßenrennen fand übrigens in Australien statt, und Weltmeister wurde der 22-jährige Belgier Remco Evenepoel, der dieses Jahr schon Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Vuelta gewann. Evenepoel ist zwar kein Philosoph, aber ein verdammt guter Fahrer. — Das Rennen der Frauen entschied die Niederländerin Annemiek van Vleuten für sich, und Liane Lippert aus Friedrichshafen, 24 Jahre alt, wurde Vierte. Da freuen wir uns doch.

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