Jenseits von Jenseits

Der Titel ist ein Gedicht von Ernst Meister (1932-1979), und wir werden sehen, wie gut er passt. »Am Anfang«, lautet der erste Satz des Alten Testaments, »erschuf Gott Himmel und Erde«. Da müsste man innehalten, denn die Mythen vieler Kulturen zeigen uns, dass es so einfach nicht ist. Über Schöpfung und Gott könnte man Tausende Seiten schreiben, aber manipogo begnügt sich mit einem Artikel, um den Blick zu weiten.

 

Beginnen wir bei den Kabbalisten. Ihre zehn Sphären, die das Universum beschreiben, erstehen in den Worten eines Instruktors

2022-04-01-0001aus dem Unwissbaren Göttlichen, das wir den Abstrakten Absoluten Raum nennen.
Der Abstrakte Absolute Raum ist in drei Sphären eingeteilt. In der Kabbala heißt der erste Teil Ain, Nichts. … Es ist der abstrakte Raum, aus dem alles auftaucht. Wenn wir sagen das Nichts, so nicht darum, weil es Nichts ist, sondern weil es etwas ist, das in keiner Beziehung zu irgendetwas im Universum steht: es ist etwas Anderes, ist weder Materie noch Energie.

LichterDer zweite Teil wird Ain Soph genannt oder das »unerschaffene Licht«, das man auch als »dunkel« bezeichnet, da es für uns unsichtbar ist. Dieses Licht kennt sich selbst nicht. Dennoch trägt es dazu bei, dass über Stufen und Kondensierungen und durch Kombination von Materie und Energie etwas entsteht. Auch der dritte Teil, Ain Soph Aur, ist noch ein nichtphysikalisches Licht, das jedoch Galaxien und Sonnensysteme und jedes Atom erhellt. Der Träger von Ain Soph Aur in dieser Welt ist dann das Sonnenlicht, das Leben gibt.

Bekannt sind aber nur die zehn Sephiroth der Kabbala, die Namen oder Ausdrucksformen des Allerhöchsten, und Kether steht an der Spitze, ist göttlich, macht sich geltend, ist spürbar, aber dennoch »nur« Ausfluss eines Entfernerten.

Jeder von uns trägt Ain Soph in sich, das Licht, das sich selbst nicht versteht. Das Universum existiert, damit dieses Licht durch unsere Hilfe sich selbst erkennt.

Bei den Azteken in Mexiko hieß das Nichts Omeyocan, über das geschrieben steht:

Im Omeyocan sind nur Wind und Dunkelheit. … Omeyocan ist der kosmische Nabel des Universums, in dem das unendlich Große in das unendlich Kleine zerbricht in einem Hin- und Herwirbeln. … Omeyocan ist der Nabel, in dem das Di/verse zum Uni/versum wird.

Und so beginnt das Buch Tao-te King von Laotse aus dem alten China:

Der Weg, der vermittelt werden kann,
Ist nicht der währende Weg;
Der Name, der genannt werden kann,
Ist nicht der währende Name.
Das Namenlose war der Beginn von Himmel und Erde;
Das Benannte war die Mutter der Myriaden von Kreaturen.

Ein anderer Autor (Howard Chang) beschreibt die chinesische Schöpfungsgeschichte so:

DSCN4559Am Beginn haben wir die Leere — das große ultimative Nichts — oder den Zustand von Wuji: unmanifestiert, ungesehen. Dann im Moment der Manifestierung, also kurz vor der Trennung von Himmel und Erde, wenn das ursprüngliche chi (die Energie) sich noch nicht ausdifferenziert hat, kommen wir zu Taiji — das Große Geheimnis (the great ultimate) —, das sich sehen lässt. Wenn es sich manifestiert hat, haben wir das negative Yin und das positive Yang, die Triebkräfte, die alle Dinge erschufen, die denkbar waren.  

Was sich dann manifestiert hat, hat einen irrsinnig weiten Weg hinter sich. Schöpfung wird im Mythos immer als Zusammenwirken von Yin und Yang und Mann und Frau verstanden. Elohim — der »Gott« im ersten Satz der Bibel — ist ein Wort der Mehrzahl und bedeutet etwa »Götter und Göttinnen«. Sogar im Islam gibt es eine Denkschule, die an den Anfang der Schöpfung eine Vereinigung des Allerhöchsten mit einer unsichtbaren Mutter dekretiert. Der Mythos weiß mehr als wir mit unserem bewussten Denken. Nach ihm steht am Anfang, vor aller Existenz, ein Namenloses,  Formloses, Ungreifbares jenseits von Jenseits, hinter allen Schleiern.

 

 

 

 

 

 

 

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