Borges‘ Zahir

Die Erzählung El Zahir von Jorge Luis Borges gehört zu seinem El Aleph, das wurde mir erst jetzt klar. Zahir ist das Gegenstück zum Aleph und dessen Abwandlung, und wenn ich Borges lese, erfasst mich eine eigentümliche Erregung, weil sich alle möglichen Bezüge auftun, alles mit Bedeutung aufgeladen ist und hinter allem Geheimnisse des Universums versteckt scheinen, von deren Existenz man nichts ahnte. 

542701-35186p07bj9Da muss man ruhig bleiben. Im Aleph bewirkt der Tod von Beatriz Viterbo, die der Erzähler, der sich Borges nennt, geliebt hat, dass er an der Plaza Garay in einem Haus in den Aleph starrt. — Im Zahir stirbt am 6. Juni Teodelina Villar, die er ebenso verehrte: eine Frau wie ein Chamäleon, berühmt und nicht zu fassen. Sie habe, sich ständig verändernd, das Absolute im Momentanen gesucht. Borges:

Ich gebe es zu, dass ich, beflügelt durch die ernsteste der argentinischen Leidenschafen, den Snobismus, in sie verliebt war und dass mich ihr Tod zu Tränen rührte. Vielleicht wird der Leser solches vermutet haben.

BorgesAm Morgen nach ihrem Tod und nach einem Besuch im Sterbezimmer trank er irgendwo einen Orangensaft und bekam als Rückgeld einen Zahir. Diese Münze ist 20 Centavos wert und trägt die Aufschrift N. T., und die betreffende Münze war im Jahr 1929 geprägt worden (das Todesjahr von B. Viterbo aus dem Aleph; das Geburtsjahr meiner Mutter … Oben eine argentinische Geldmünze von 1999 mit Borges-Bild: 2 Centavos). Am Beginn der Erzählung ist der 13. November, und der Erzähler erinnert sich und ist überzeugt:

Immer noch, zumindest teilweise, bin ich Borges. 

Die Münze hat ihn nämlich verändert. Sie führt dazu, dass er an nichts Anderes mehr zu denken vermag. Es ist eine Obsession. Er erkennt die Hintergründe erst, als er Urkunden zur Geschichte der Zahirsage von Julius Barlach liest. Zahir heißt auf Arabisch exoterisch oder äußerlich (im Gegensatz zu esoterisch), und wer den Zahir sieht, kann ihn nicht vergessen, denkt nur an ihn; wird allmählich verrückt. Ist der Zahir ein Tiger oder das Astrolabium, das Nadir Schah auf den Meeresgrund schickte? Dieser Zeitmesser verwirrte die Menschen, sie dachten nur mehr an ihn, man musste ihn wegtun; und in Mysore malte ein Künstler eine unendliche Reihe von Tigern, weil es schwer ist, nicht an einen Tiger zu denken …

coinBorges denkt, dass die Münze an alles mythische Geld denken lässt: den Obolus, der den griechischen Toten unter die Zunge gelegt wurde, damit sie die Überfahrt bezahlen konnten; die 30 Silberlinge, für die Judas Jesus verriet … Geld sei abstrakt, eröffne viele Zukünfte und drücke unseren freien Willen aus. Borges sieht im Geiste Vorder- und Rückseite des Zahirs gleichzeitig, sieht nicht das Universum, sondern nur den Zahir. Im Kleinen siehst du das Große, sagt die Smaragdtafel des Hermes Trismegistos.

Wenn alle Menschen der Erde Tag und Nacht nur an den Zahir dächten, was wäre dann der Traum und was die Realität, die Erde oder der Zahir?

So verwirrt uns Borges, der am Ende die Plaza Garay erreicht und sich an die Passage eines orientalischen Buches erinnert, in der es heißt, der Zahir sei der Schatten der Rose und der Riss im Schleier. Die Sufis wiederholten die 99 Namen Gottes bis zum Überdruss, bis sie ihre Bedeutung einbüßten. Er werde weiterhin unausgesetzt an den Zahir denken, vielleicht werde er ihn so los, und ohnehin stecke hinter dem Zahir vermutlich Gott.

α β γ

OIPtavDie Aleph-Erzählung (Aleph, der erste hebräische Buchstabe) beginnt an der Plaza Garay, der Zahir endet dort; der Zahir beginnt mit Z, also unserem letzten Buchstaben, und der letzte Buchstabe im Hebräischen ist das Tav, die Summe von Allem. Sah Borges im Aleph die ganze Welt in einem Loch sich abspielen, so sieht er nun die Münze als Abbild der Welt, als Ersatz, als Summe. Das Tav ist wie ein Siegel, wie ein Stempel; und früher siegelte man ja Schriftstücke, indem man eine Münze in Wachs drückte. Das Tav fasst unsere ganze gelebte Existenz zusammen. Beginnend mit Aleph, dem göttlichen Wind, erreichen wir über Mem, das Wasser der göttlichen Mutter, schließlich Tav, die Energie des Lichts; aber erst nach einem langen Prozess, der aus Reinigung, Illumination und Perfektion besteht. Das kriegen wir hin.

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