Irrealitäten

Nun, da der neue Papst ein Argentinier ist, erinnert sich manch einer vielleicht an Jorge Luis Borges (1899−1986). Kennt man ihn noch? Er war ein Zeitgenosse von Nabokov, und wer beide Autoren liest, bereichert sich. Ich greife aus einer Passage von Borges einen Satz heraus: »Suchen wir nach Irrealitäten, die den Weltcharakter bestätigen.«

Im Zusammenhang: »Die Kunst verlangt − immer − nach sichtbaren Unwirklichkeiten … Geben wir zu, was alle Idealisten zugeben, den halluzinatorischen Charakter der Welt. Tun wir, was bislang kein Idealist getan hat: Suchen wir nach Irrealitäten, die den Weltcharakter bestätigen. Wir werden sie, glaube ich, in Kants Antinomien und in der Dialektik von Zeno finden.« Und in der Quantentheorie, möchte ich hinzufügen.  

Man könnte einwenden: Die Welt funktioniert doch nach Regeln. Jeden Tag merken wir das. Unser Bewusstsein ist das Wunder. Dass wir über die Welt nachdenken können. Wir machen es uns zu einfach. Die Welt ist kompliziert. Machen wir sie kompliziert oder ist sie so? Borges verweist auf Novalis (er liebte die deutsche Literatur), der sagte, der größte Zauberer sei der, der sich so bezaubern könnte, dass ihm seine Zaubereien wie fremde, selbstmächtige Erscheinungen vorkämen.  

Die Welt, die wir erträumten: Installation von Pipilotti Rist in St. Gallen

»Wir (die ungeteilte Gottheit, die in uns wirkt) haben die Welt geträumt.« Das sagt Borges. Wir hätten sie resistent und geheimnisvoll geträumt, aber »wir haben in ihrem Bau schmale und ewige Zwischenräume von Sinnlosigkeit offengelassen, damit wir wissen, dass sie falsch ist.«  

Jorge Luis Borges studierte viel, erblindete (es war ein Schicksal in der Familie) mit 50 Jahren, war danach (ab 1955) Leiter der Nationalbibliothek in Buenos Aires und schrieb viele phantastische und gelehrte Geschichten, in denen er Dinge erfand, die wahr hätten sein können und auch geglaubt wurden. Gegen Ende seines Lebens heiratete er seine Sekretärin und ging, wie Nabokov und Thomas Mann, in die Schweiz, dieses zauberhafte extraterritoriale Land der Freien, in dem es sich schön träumen lässt (wenn man Geld hat). Er starb 1986 in Genf und ist dort bestattet. (Meine Zeichnung: der alte Dichter) 

Seine Irrealitäten finden Platz bei manipogo. Ich habe als Journalist mit Weltnachrichten angefangen, um irgendwann einzusehen, dass alle Sensationen hohl sind und alle Aktualitäten bedeutungslos. Der professionelle Journalismus ist allzu bürgerlich und zu negativ. Darum möchte ich hier lieber aufrichtige und mutige Menschen und unkonventionelle Gedanken vorstellen. Die Wahrheit ist irgendwo da draußen. »I Want to Believe«, stand auf einem Schild hinter dem Schreibtisch von Fox Mulder in der Serie Akte X (1993−2002). Wir müssen glauben und träumen, sonst sind wir verloren.    

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