Der Kaiser und die Schlange

In dem Buch Alemannische Sagen stieß ich auf eine Geschichte, die verblüffend an den Zahir von Borges erinnert. Aufgezeichnet haben sie die Gebrüder Grimm, die sie 1818 publizierten. Ich schreibe sie einfach ab; mit der Schlange an sich (mein ursprünglicher Plan) können wir uns irgendwann danach beschäftigen. Die Hauptperson ist Kaiser Karl der Große, geboren 747 und gestorben in Aachen 814.

OIPaachenDie Sage Der Kaiser und die Schlange ist eigentlich eine Gründungslegende: Sie erzählt, wie es zur Stadt Aachen kam, die  eigentlich schon zu römischer Zeit besiedelt war. Karl baute sie jedoch aus und machte sie zu seiner Lieblingsstadt. In der Sage wirkt ein Edelstein auf Karl den Großen ein, und wir sehen: Kaiser sind auch Menschen.

 

Als Kaiser Karl zu Zürich in dem Hause genannt »zum Loch« wohnte, ließ er eine Säule mit einer Glocke oben und einem Seil daran errichten: damit es jeder ziehen könne, der Handhabung des Rechts fordere, wenn der Kaiser am Mittagsmahl sitze.

Eines Tages aber geschah es, dass die Glocke erklang, die hinzugehenden Diener aber niemand beim Seil fanden. Es schellte aber von neuem in einem weg. Der Kaiser befahl ihnen, nochmals hinzugehen und auf die Ursache acht zu haben.

Da sahen sie nun, dass eine große Schlange sich dem Seil näherte und die Glocke zog. Bestürzt hinterbrachten sie das dem Kaiser, der alsbald aufstand und dem Tier, nicht weniger als dem Menschen, Recht sprechen wollte.

Nachdem sich der Wurm ehrerbietig vor dem Fürsten geneigt, führte er ihn an das Ufer eines Wassers, wo auf seinem Nest und auf seinen Eiern eine übergroße Kröte saß. Karl untersuchte und entschied der beiden Tiere Streit dergestalt, dass er die Kröte zum Feuer verdammte und der Schlange recht gab. Dieses Urteil wurde gesprochen und vollstreckt.

Wenige Tage darauf kam die Schlange wieder an den Hof, neige sich, wand sich auf den Tisch und hob den Deckel von einem darauf stehenden Becher ab. In den Becher legte sie aus dem Mund einen kostbaren Edelstein, verneigte sich wiederum, und ging weg.

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An dem Ort, wo der Schlangen Nest gestanden, ließ Karl eine Kirche bauen, die nannte man Wasserkilch; den Stein aber schenkte er, aus besonderer Liebe, seiner Gemahlin. Dieser Stein hatte die geheime Kraft in sich, dass er den Kaiser beständig zu seinem Gemahl hinzog, und dass er abwesend Trauern und Sehnen nach ihr empfand. Daher barg sie ihn in ihrer Todesstunde unter der Zunge, wohl wissend, dass, wenn er in andere Hände käme, der Kaiser ihrer bald vergessen würde. Also wurde die Kaiserin samt dem Stein begraben; da vermochte Karl sich gar nicht zu trennen von ihrem Leichnam, so dass er ihn wieder aus der Erde graben ließ und 18 Jahre mit sich herumführte, wohin er sich auch begab.

Inzwischen durchsuchte ein Höfling, dem von der verborgenen Tugend des Steins zu Ohren gekommen war, den Leichnam und fand endlich den Stein unter der Zunge liegen, nahm ihn weg und steckte ihn zu sich. Alsbald kehrte sich des Kaisers Liebe ab von seiner Gemahlin und auf den Höfling, den er nun gar nicht von sich lassen wollte. 

Aus Unwillen warf einmal der Höfling, auf einer Reise nach Köln, den Stein in eine heiße Quelle; seitdem konnte ihn niemand wieder erlangen. Die Neigung des Kaisers zu dem Ritter hörte zwar auf, allein er fühlte sich nun wunderbar hingezogen zu dem Ort, wo der Stein verborgen lag; und an dieser Stelle gründete er Aachen, seinen nachherigen Lieblingsaufenthalt. 

 

P1210885_FotorHinter dieser Geschichte steckt wohl der alte Wunsch nach ewiger Liebe und ewig wirkender »magnetischer« Anziehungskraft, wenngleich durch ein magisches Mittel erzielt. Wir denken an die vielfältigen Prozeduren des »Liebeszaubers«, um jemanden an sich zu ketten oder zu sich zu rufen. Es ging immer um seltsame Tinkturen, doch musste man von dem Geliebten etwas beisteuern: drei Haare etwa oder einen Fußabdruck.

Das Kleine entspricht dem Großen: Die Haare tragen seine Signatur. Vergrab sie unter der Schwelle, und er wird erscheinen! Die australischen Ureinwohner hatten ihren Bull-Roarer, ein Gerät, das man um sich herumschleuderte und das urtümliche Töne erzeugte. Es zeigte einem die Himmelsrichtung, wo die Verehrte sich aufhielt, und das Geräusch zog sie her.

 

Illustration (groß): aus dem Buch Alemannische Sagen, Ullstein 1987. Es handelt sich um einen Kupferstich aus einem Buch von J. R. Wyss über Schweizer Sagen, 1815 erschienen. – Rechts unten: Detail oberhalb eines Fensters in Zürich, vermutlich am »Haus zum Loch«

 

 

 

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