Zug der Lemminge

Peter Noll und seine Diktate über Sterben & Tod, das sagte mir etwas, als ich das Buch aus einem Freiluftregal an mich nahm. Ich kannte den Namen durch Max Frisch, 1982 war das, lange her. Noll, der Professor für Strafrecht, hatte Blasenkrebs. Operieren wollte er sich nicht lassen, und ein Jahr Leben blieb ihm noch. Darüber schrieb er.

Es kommt einem vor, als hätte er dies alles gestern geschrieben. Peter Noll schrieb über das Leben, das um ihn herum und in der Welt, weil der Tod nichts hergibt. Schon Augustinus sagte ja im Gottesstaat:

Ein Sterbender ist darum stets ein noch Leben­der; denn auch wenn sein letztes Stündlein schlägt und er drauf und dran ist, wie man sagt, seinen Geist aufzugeben, bleibt er dennoch, bis seine Seele entweicht, am Leben.

2022-11-19-0001Peter Noll kam 1926 in Basel zur Welt. 1961 wurde er Professor für Strafrecht in Mainz, 1969 in Zürich. Er schrieb über Gesetzgebung,  Macht und Pressefreiheit sowie das mutige Buch Landesverräter. 17 Lebensläufe und Todesurteile 1942-1944. Noll galt als Linker, was ihm seine Stellung als Zürcher Professor nicht gerade erleichterte. Doch immer wieder ergriff er das Wort, und ich will ein paar gelungene Stellen aus den ersten 100 Seiten zitieren. Damals, 1982, ängstigte das Wettrüsten zwischen Amerikanern und Russen die Welt, und Untergangsfantasien machten sich breit. Noll hat immer hervorgehoben, dass das System (oder die Systeme) den Menschen im Griff hat (haben) und dass dagegen wenig zu tun ist. Der Weg in den Untergang (siehe heute: Klimakatastrophe) ist dann kaum zu stoppen.

IMG_2149Zug der Lemminge. Zu Hunderttausenden machen sie sich auf die Wanderschaft, dem Eismeer zu, stürzen sich ins Wasser, schwimmen noch eine Zeitlang, ertrinken. Alle sagen: es ist Unsinn, was wir tun, stoppt doch endlich den Zug, wir müssen uns verteilen, andere Lösungen finden, so kann es nicht weitergehen. Auch ihre Führer erklären: wir tun alles, um den Zug in eine andere Richtung zu lenken, wir wollen doch nicht in den Tod laufen, wir werden eine Verhandlungslösung finden; vorläufig allerdings müssen wir in dieser Richtung weiterlaufen, denn es gibt keine andere Möglichkeit.

Und die anderen sagen: wenn die Führer, die es sich ja genau überlegt haben, so urteilen, dann müssen wir uns vorerst fügen, die werden schon eine Lösung finden. Dabei laufen ständig alle weiter, dem Eismeer zu. Doch gibt es gewaltige Diskussionen während des Laufes, Überlegungen von Alternativen, einige mahnen sogar zur Rückkehr, finden aber kein Gehör, kehren auch selber nicht zurück, sondern laufen mit. Alle sind dagegen, dass das getan wird, was alle tun. Schließlich kann man ja auch einen so großen Zug nicht plötzlich umkehren, das gäbe eine Katastrophe, weil die Vorderen von den Nachrückenden zertrampelt würden; erst muss man herausfinden, wo andere Futterplätze auf dem Lande sind, und dieses Problem studieren wir genau, sagen die Führer. Doch der Zug läuft weiter, dem Eismeer zu.

Was prägt diese Welt, in der wir leben, und was ist ihr Fluch? Dazu ein klares Urteil des Autors:

elektrizitätEs ist die Emanzipation der naturwissenschaftlichen Forschung zusammen mit deren kommerzieller und militärischer Verwertung. Dahinter steht jener faustische Geist, jener unermüdlich schweifende, unersättliche, bohrend fragende, mit allem experimentierende Geist, der amoralisch ist, d.h. weder moralisch noch unmoralisch, wie das Wissen selbst. … Er ist wahrscheinlich entstanden in der Renaissance und bei den kritischen Humanisten und wurde von der Kirche bekämpft. Die kirchlichen Fesseln aber hat er gesprengt zunächst in der Reformation und dann definitiv in der Aufklärung und der ihr folgenden französischen Revolution. Er ist eindeutig ein Produkt des westlichen Europas. …

Die Völker, die mit (ihm) nicht konkurrieren wollten oder konnten, sind wie die Indianer vernichtet oder unterworfen worden. Diejenigen, wie die Afrikaner und die Inder usw., die man wegen ihrer zu großen Bevölkerung aus der Kolonialherrschaft wieder entlassen hat, leben unter der Herrschaft des Hungers, weil die westeuropäische und nordamerikanische Welt alle Güter, die die Erde produziert, an sich reißt und auffrisst. 

Morgen mehr.

 

 

 

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