Tauromachie

Seit vielen Jahren schreibe ich mir die wichtigsten Stellen aus Büchern ab, und das füllt Aktenordner und Notizhefte. Dieses Wissen ist ausgelagert, es ist nicht in mir. Beim Herumkramen finde ich bisweilen ein paar harmlose Zettel, lese sie, und es ist, als öffne sich eine Schatztruhe — und so ging es mir mit Zitaten aus dem Buch Tauromachie von Michel Leiris. Olé! 

Leiris, 1901 in Paris geboren, unternahm als Ethnologe Forschungsreisen nach Afrika und schrieb darüber. Gleichzeitig analysierte und beobachtete er sich selbst, beging also nicht den Fehler der frühen Ethnologen, fremde Gebräuche auf dem Hintergrund der eigenen kulturellen Prägung darzustellen. Michel Leiris verfasste viele autobiografische Schriften und brillierte mit einer präzisen, umherschweifenden und dennoch erhabenen Prosa, wie das folgende Stück über den Stierkampf zeigt. Tauromachie (taurus: der Stier; etwa: Stierkampfkunst) schrieb er schon als alter Mann, 1982. Er wurde 89 Jahre alt.

RtoreroIMG_0083Wie der Schleier eines Taschenspielers oder das Flittergold eines Possenreißers, den allein die Bestechlichkeit antreibt, hängt das rote Tuch der Muleta oder die rosa-gelbe Fülle der Capa in der Hand des Toreros. So aufrichtig sein Spiel auch sein mag, immer mischt sich ein Hauch Scharlatanerie bei, den das schillernde Tuch oder der lange Umhang mit den verdächtigen Falten materialisieren. Dieser Schandfleck hinter einer prunkvollen Fassade, diese Korruption, die sich dahinein schleicht, wo nur reiner Mut anzunehmen wäre, geben auf ihre Weise dem Ganzen die unentbehrliche Würze, fügen den Riss oder die leichte Beschädigung bei, die der Schönheit Leben verleiht.

Perfekte Schönheit wäre unmenschlich. Bei manchen Umzügen in Südostasien, erzählte einmal André Malraux, wird auch ein hässliches Gefährt mitgeschleppt, um zu zeigen, dass wir uns in Demut üben sollten; nur Gott ist perfekt, wir sind immer nur unterwegs zur Perfektion. Perfekte Schönheit wäre unberührbar und unbeweglich; erst wenn sich eine kleine Imperfektion zeigt, sind wir nicht mehr nur ehrfürchtig, sondern gerührt, und dieses kleine Bisschen Mitleid führt zu Liebe.

stierkampAus all diesem folgt, dass die Tauromachie ein typisches Beispiel jener Kunst darstellt, deren ästhetische conditio sine qua non eine Verschiebung, Abweichung, Dissonanz ist. Ohne eine Gewaltanwendung, Transgression, Überschreitung, ohne einen Verstoß gegen die ideale Ordnung, die als Richtschnur fungiert, wäre also kein ästhetischer Genuss möglich … So wie der unterschwellige Tod dem Leben seine Farbe gibt, trägt der Verstoß, der Missklang (der eine potentielle Zerstörung keimhaft in sich birgt und sie auch suggeriert) zu der Schönheit der Norm bei, denn er reißt sie aus ihrer Erstarrung heraus und wandelt sie in einen aktiven und magnetischen Pol um, der uns dann jeweils abstoßen oder anziehen wird. 

stierkampfMichel Leiris erwähnt eine Grenzlinie, auf die wir zustreben, der wir aber doch ausweichen, und diese Schaukelbewegung sei der »eigentliche Urgrund unseres Gefühlslebens«. Wir schwanken zwischen Identifikation und Separation hin und her, wir suchen zwar die Offenbarung und die totale Hingabe, schrecken aber davor zurück, weil es unsere Selbstaufgabe bedeuten würde. Richtig schreibt der Autor, diese »Verschmelzung unseres Wesens mit dem All« sei nur im Augenblick des Todes möglich (oder in mystischen Erfahrungen, füge ich hinzu, die aber meist auch nur einen Augenblick währen). Dann kommt er zur Erotik:

Wie jedes kreative Schaffen überhaupt, das unbedingt die Existenz dieses Risses, der das Eindringen des Unglücks in die vollkommene Schönheit anzeigt, erwägen muss, besteht die Liebeskunst oder Erotik auf dem bewussten und freiwilligen Miteinbeziehen eines schiefen Elementes in das sexuelle Geschehen, das die Rolle der Dissonanz, der Verzerrung spielt und schließlich zur Haupttriebfeder der Emotion wird.

008Für Emotion hatte ich erst »Erektion« geschrieben, weil ich meine Schrift nicht lesen konnte. Peinlich! Ein Freudscher Verschreiber! Leiris erwähnt noch, die meisten Religionsgründer hätten den Tod stets zu bannen oder ihn mit »Architekturen zeitloser Vollkommenheit« zu verbergen gesucht. Stattdessen solle man allem

ein Element beimischen, das in der unnachgiebigsten wie in der zartesten Schönheit etwas Verzweifeltes, unwiederbringlich Armseliges, unerbittlich Verdorbenes durchschimmern lässt. Ein Hauch von Gift, ohne das kein Alkohol wäre — so euphorisch sie auch sein mag —, ist immer nur ein mehr oder weniger zutreffendes Bild unserer zukünftigen Gemeinschaft mit der Welt des Todes. 

 

 

 

 

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