Hier und jetzt

In einer Lehrstunde von Sanaya — die Gruppe, die von Suzanne Giesemann gechannelt wird — geht es viel um awareness, um das Anwesendsein, also um das Stehen im Hier und Jetzt, was buddhistische Mönche und Zeugen von Todeserfahrungen ebenfalls in den Mittelpunkt stellen. Dorthin führt uns ein Gedicht von Quevedo, dem spanischen Barockautor.

DSCN3462Francisco Gómez y Quevedo lebte von 1580 bis 1645, war also ein Zeitgenosse der großen spanischen Dramatiker Lope de Vega (1562-1635) und Calderón de la Barca (1600-1681). — Zu diesen beiden will ich bemerken, dass mir eine bedeutsame Parallele auffiel: Beide Dramatiker wurden im selben Lebensalter (mit 51 oder 52 Jahren) zum Priester geweiht (Lope de Vega 1614, Calderón 1651), und beide Male bewirkte angeblich der Tod ihrer Frau diese Wandlung. Hat nichts zu besagen, ist nur kurios.

Ich möchte ja im März mit dem Rad nach Spanien, also bereite ich mich schon mal durch Lektüre vor. Quevedo schrieb ein Sonett, das heißt Represéntase la brevedad de lo que se vive, e quán nada parece lo que se viviò. Könnte heißen etwa: Darstellung der Kürze dessen, was man lebt und was in nichts dem entspricht, was man meint gelebt zu haben.

DSCN4318Das Mysterium des Lebens hat alle Dichter beschäftigt, und leben heißt sich wandeln und altern. Vielleicht behandelt jede Dichtung die Vergänglichkeit. In Quevedos Sonett ist sie zusammengedrängt in der dritten Strophe zu finden: das Heute, das nicht einmal einen Punkt hinterlässt … Was wir oben rechts lesen, ist natürlich falsch: Wir sind nicht in Zürich, und wir haben nicht 13:10:12 Uhr, doch beides zusammen war einmal ein Hier und Jetzt für den Fotografen (mich).

Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnert uns in seiner Phänomenologie des Geistes (1816):

Jetzt; es hat schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird; das Jetzt, das ist, ist ein anderes als das gezeigte, und wir sehen, dass das Jetzt eben dieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu sein.

Und weiter:

Das Aufzeigen (des Jetzt) ist also selbst die Bewegung, welche es ausspricht, was das Jetzt in Wahrheit ist, nämlich ein Resultat oder eine Vielheit von Jetzt zusammengefasst; und das Aufzeigen ist das Erfahren, dass Jetzt Allgemeines ist.

derstandAuch das Hier. — Wenn ich auch standhaft aufs Hier und Jetzt verweise, kann ich nicht leugnen, dass ich eher zufällig hier bin, mein Hier aber erst verstehe, weil ich viele Hiers dieser Welt erlebt habe; und dass ich so, als wollte ich eine Melodie verstehen, auch mein Jetzt etwas weiter fassen muss. Sagen wir nur: Wir können uns nicht ein starres Jetzt vormachen, in dem wir sitzen wie Buddha unter dem Baum. Wir sind Bewegung, wir atmen; alles um uns her fließt, und wir fließen eben mit. Unser Körper verströmt sich dabei unmerklich, und das ist natürlich. Dort drüben, ohne sterblichen Körper, herrscht ein Zustand vor, solange er dauert; ein Jetzt, das man definieren müsste, gibt es dort nicht.

Nun aber das Sonett von Quevedo:

«¡Ah de la vida!» … ¿Nadie me responde?
Aquí de los antaño que ho vivido!
La Fortuna mis tiempos ha mordido;
Las Horas mi locura las nasconde.

¡Que sin poder cómo ni adónde
La Salud y la Edad se hayan huido!
Falta la vida, asiste lo vivido,
Y no hay calamidad che non mi ronde.

Ayer se fue; Mañana no ha llegado;
Hoy se està yendo sin parar un punto:
Soy un fue, y un serà, y un es cansado.

En el Hoy y Mañana y Ayer, junto
Pañales y mortaja, y he quedado
Presentes sucesiones de difunto.

 

Ach, über das Leben! … Keine Antwort drauf hast du gefunden?
Hier ist das Einstige, das ich gelebt
Im Glück hat meine Zeit gebebt
Wahnsinn verbirgt mir meine Stunden.

Nicht wissen, wie, und nicht, wohin zu gehn
Gesundheit und die Jahre sind verflossen
Fehlt das Leben, gibt’s noch den Lebenden, der es genossen
Und Qualen aller Arten um mich stehn.

Das Gestern war; das Morgen kommt, kommt sicherlich;
Das Heute ist nun hier und hinterlässt kaum eine Spur.
Ich bin ein War, ein werde Sein, und bin ein müdes Ich.

Im Heute und im Morgen und im Gestern vereinen sich mir nur
Die Windeln und das Leichentuch; so seht ihr mich
als einen, der zwar da ist, aber vielmals schon den Tod erfuhr.

Das ist mir doch gut gelungen, den Reim habe ich herübergebracht! Quevedo wär es zufrieden.

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