Mitternachtskinder

Der Film Mitternachtskinder der indischen Regisseurin Deepa Mehta läuft erst seit einer Woche in Deutschland, und ich habe ihn schon gesehen! Die Vorlage ist ein Roman des indisch-britischen Autors Salman Rushdie von 1981, der auch das Drehbuch geschrieben hat. Der Film dauert zwei Stunden, doch es kommt einem vor, als sei er vier Stunden lang. Atmosphäisch schön, aber ohne Plan und Struktur. Leider.

Interessant ist ja die Verbindung von Indien zu Kanada, die schon in dem letzten Film, den ich sah, eine Rolle spielte: Schiffbruch mit Tiger. Dessen Autor Yann Martel ist ein kanadischer Schriftsteller, der über Indien schrieb, und sein Held will mit Familie und Zoo auf dem Seeweg nach Kanada. Deepa Mehta emigrierte vor 40 Jahren nach Kanada, das auch den neuen Film mit produzierte. Und Kanada, wir wissen es, ist das Heimatland des echten Manipogo. Kanada bedeutet mir etwas.     

Der Roman Satanische Verse (1988) des 1947 geborenen Rushdie wurde berühmt, und danach wollten ihn die Moslems umbringen lassen, weil er den Propheten Mohammed verunglimpft habe. Ich hielt den Roman für grandiose Fabulierkunst, auch vor zehn Jahren noch; aber als ich nun wieder in die ersten Seiten hineinlas, hielt ich es für vollgestopfte hohle Romancierkunst, und der Erzähler legt eine blasierte ironische Haltung an den Tag, die gut zu Ruhsdie mit seinen herunterhängenden Augenlidern passen wollte (die er sich irgendwann korrigieren ließ). Blasiert-ironisch redet auch dee Erzähler in den Mitternachtskindern.  Das nervt.

Titelbild des Films (Verleih: Concorde)

Der Film jedenfalls ist konfus. Die Geschichte Indiens wird mit der Geschichte eines Jungen verkoppelt, der exakt an Mitternacht an dem Tag im Jahr 1947 geboren wird, an dem auch Indien unabhängig wird. Diese »Mitternachtskinder« erscheinen ihm immer wieder und diskutieren herum, aber man weiß nicht, was sie wollen. Es gibt Krieg, Bangladesch entsteht 1947 (für die Moslems, im Osten Indiens, dieses arme Land), Indira Gandhi ruft den Ausnahmezustand aus, der 1977 aufgehoben wird …  

Von dieser Region wissen wir ja wenig. Ich dachte mir nur: Jeder Raum dieser Erde hat seine Geschichte, lebt mit seinen geschichtlichen Daten, seinen Opfern und Tätern. Es gibt einen Fortschritt, es geht irgendwohin, es ist ein ewiger Kampf. Milliarden Menschen leben Tag für Tag, und wenn sie sich einmal stabil politisch verfasst haben werden und für ihr Überleben, ihren Wohlstand vielleicht gesorgt sein wird: Ist das dann ein Endzustand? 

Die Utopie wäre ein getragenes Oster- und Weihnachtsgefühl. Wir gehören alle zusammen und sind Eins. Dennoch sind wir jetzt noch einzelne Individuen, die zwar schon ausgedehnt und hitzig miteinander plaudern, auch über Kontinente hinweg, aber es sind noch Einzelwesen. Der Weg ging vom Urstoff zur Differenzierung, zu Milliarden Individuen und Objekten, doch er sollte auch wieder zurückführen zur Einheit. Wäre es nicht der Traum, zusammen etwas Geglücktes zu schaffen? Niemand kann etwas alleine, auch ein Autor braucht Leserinnen und Leser.   

Immerhin, das letzte Wort im Film Mitternachtskinder ist: Liebe. Die Zukunft der Menschheit ist ein großes Wir-Gefühl. Dennoch kennen wir Brecht, diese Passage aus dem Gedicht An die Nachgeborenen:

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne.
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging die Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

 

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