Orelli und der Ball

Am ersten Wochenende im Februar, als es südlich des Gotthard 18 Grad warm war, hielten wir uns in Lugano auf. Ich nahm das einzige meiner Bücher mit, das (am Rande) mit der Stadt zu tun hatte: Il sogno di Walacek von Giovanni Orelli (1928-2016) aus dem Tessin. Nach 20 Jahren las ich es nochmals, es war ein Genuss. Fußball spielt darin eine große Rolle.

Als würde er spät vom Trainer eingewechselt, legt Giovanni Orelli los. Er fängt beim 18. Juni 1938 an, als im Berner Wankdorf-Stadion das Schweizer Cupfinal zwischen Servette Genf und den Grasshoppers Zürich stattfinden sollte, dribbelt ein wenig herum, und man fragt sich: Worauf will er hinaus? Dann zieht er aus 30 Metern trocken ab. Und wir haben verstanden.

RtaribuDenn am nächsten Tag, am 19. Juni 1938, nahm der Schweizer Künstler Paul Klee (1879-1940) die Sportseite der National-Zeitung zur Hand und malte rasch mit schwarzer Tusche das Alphabet darauf. Dann war die Seite Kunst, und um Kunst geht es in Orellis Buch, um den Fußball und vor allem um die Schweiz, zu deren 700-Jahr-Feier 1991 der Tessiner das Buch schrieb, das erst 2008 als Walaceks Traum übersetzt wurde. Klee hat sehr oft das Alphabet gemalt, aber selten auf die Zeitung. Ich suchte die Darstellung also im Internet und fand sie: als Illustration zu dem Beitrag Taribu West in der Kritischen Ausgabe plus. Rechts sehen wir es. Aber … ist das — Taribu West — nicht mein Beitrag gewesen damals um 2006? Damals erwähnte ich Orelli und hatte das Bild eingescannt; nun kehrte es zu mir (und uns) zurück. Irre.

RfußballSpäter mehr, heute: der Fußball. Unvergessen und von Orelli erst auf Seite 53 erwähnt: dass die Schweiz am 9. Juni 1938 das Deutsche Reich mit 4:2 besiegte und damit aus der Fußballweltmeisterschaft schoss, eine Sensation.

Das Reich hatte (in der Realität, nicht auf dem Platz) erst im März 1938 Österreich überrollt, und 99 Prozent aller Bürger fanden den »Anschluss« okay. Der »Reichsführer« wünschte eine großdeutsche Mannschaft zu sehen mit 5 Spielern aus dem »Altreich« und 6 aus der neuen »Ostmark« oder umgekehrt, doch Harmonie kam nicht zustande. Bundestrainer Sepp Herberger war machtlos.

Matthias Sindelar, der immer noch verehrte österreichische Wunderstürmer, wollte nicht für das Reich spielen. Am 23. Januar 1939 fand man ihn tot in einer Wiener Wohnung, Kohlenmonoxidvergiftung. War es Selbstmord? Es könnte Mord gewesen sein, seine neue Bekannte Camila Castagnola war extrem eifersüchtig und beherrschend.

R1938222Auf dem Platz führte das Reich 1938 im Pariser Prinzenpark schon 2:0, als Génia Walacek für die Schweiz der Anschluss-Treffer und Amadò der Ausgleich glückte. Zwei Tore von Trello Abegglen machten den Sieg der Schweizer perfekt, die leider dann gegen Ungarn mit 0:2 den Kürzeren zogen. Aber der Sieg des Kleinen gegen den Großen freut den Fan immer. Das war historisch. Eineinhalb Jahre später gingen die Lichter aus: Krieg.

Giovanni Orelli hat eine Liebe für den Fußball, und lassen wir ihn davonstürmen, ohne ihn zu bremsen; halt, eine Bemerkung noch: unsere Zeit ist audiovisuell, der Kommentar begleitet eine Vielzahl live übertrag’ner Fußballspiele, was aber abläuft, wirklich abläuft, steht in der textlichen Überhöhung. Hier erleben wir Walaceks Traum:

Die unmögliche Partie, das Beste aus Platon im Fußball, wird, binnen kurzem, möglich sein. Im Urgrund der Träume von Génia Walacek traf sie schon ein. Er schuf mit delikaten Bällen Ordnung, schlug mit dem Körper Finten, dialogisierte im Stillen mit Sindelar, immer Du auf Du, und schlug dann einen Präzisionsball auf Kocis vor dem Tor, die Rübe aus Gold, der ihn weiterschickte in die hohe Ecke, unhaltbar sogar für Planicka. Er erträumte sich das Vergnügen, dass er unter Furcht und Zittern in der Nähe der Eckfahne und unter dem wachsamen Auge des Linienrichters zur Ausführung des Eckballs schritt. Er ignorierte die Menge in seinem Rücken, die Menge vor sich, die in der zentralen Tribüne; manche bejubelten und andere beleidigten ihn, Hymnen und Flüche, Pfiffe und Beifall, dies alles war, als ob der menschliche Schmerz und das Verlangen nach Freude jenen aufgerissenen Mündern anvertraut wäre.

antoine-griezmann-frankreich-eckball-ecke-corner_16nbzd3kvs3jy15zven03wryx4Du wirst einen Effetball schlagen, nicht zu sehr auf den Tormann gerichtet, nicht zu weit hinter ihn, es müsste eine himmlische Konstellation entstehen wie das Sternbild des Orion in einer klaren Winternacht; es muss vor allem die mentale Eichung von Impuls, Kraft und Schlauheit gelingen, dass der Ball parabolisch-schräg, womöglich zurückspringend wie Verwünschungen und Witze im Alltag des Lebens, den Kopf von Trello träfe oder die Seite von Aeby; und im Namen der Schweiz möge Gott der Herr Deutschland beschämen. Gott (nein, wir führen seinen Namen nicht unbillig im Mund) steh‘ uns bei und verschaffe dem Ball Anomalie und Unvorhersagbarkeit. Er erleuchte Trello, damit er genau zur richtigen Zeit sich emporschraube. Es zählt, wie bei allem, das Glück. Ein Tor kann ein Wunder sein, kann nah am Banalen oder am Erhabenen sein.

Der Österreicher Karl Rappan, der alte Fuchs, trainierte die Schweizer 1938. Trello Abegglen traf in der 75. und in der 78. Minute. Nach einem Eckball Walaceks? Das wissen wir nicht. Génia Walacek, in Moskau geboren, später in der Schweiz spielend, wurde fast 90 Jahre alt. Nach dem Ende seiner Karriere 1945 arbeitete er in der Genfer Finanzverwaltung und trainierte den Verein Étoile La Chaux-de-Fonds.

 

 

 

 

 

 

 

 

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