Orakel (2): Delphi

Das Orakel von Delphi in Griechenland ist allbekannt. Vom achten bis zum fünften vorchristlichen Jahrhundert war es das geistige Zentrum der antiken Welt der Griechen — der Nabel der Welt. Nabel heißt omphalós, da sind wir schon wieder beim O. Zeus ließ angeblich zwei Adler von den beiden Enden des Kosmos aufsteigen und losfliegen, und sie begegneten sich in Delphi. 

RdelphiGewidmet war das Heiligtum dem Apoll, der eine gefährliche Schlange tötete, dafür als Sklave Buße tat und sprach: »Mein sei die Leier und der krumme Bogen … Und ich künde den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluss.« Er wurde aber erst im Frühjahr aktiv; von Dezember bis Februar war er angeblich abwesend — vielleicht in südlicheren Gefilden, auf Urlaub — und statt seiner gab es in Delphi dionysische Gesänge und Orgien.

Über der Tür des Tempels war der berühmte Spruch eingemeißelt »Erkenne dich selbst«. Ein anderer Spruch war: »Nichts im Übermaß«. In der Blütezeit Delphis strömten Gesanftschaften aus allen Herren Ländern zu dem Heiligtum wie auch einzelne Ratsuchende. Sagenhafte Reichtümer sammelten sich an. Und immer wieder wurde der Ort wie durch ein Wunder des Gottes gerettet. Später kam es zu einem Niedergang: Das Orakel war nicht mehr unabhängig und versuchte, den Fragenden entgegenzukommen.

OIPpythiaDie Pythia — so hieß die Hauptfigur — war meist eine etwa 50-jährige Frau, die unberührt sein musste und sich wie ein junges Mädchen kleidete. Nur sie durfte den »Antron« betreten, in dem sich der »prophetische« Erdspalt befand, aus dem berauschende Dämpfe stiegen. Die Pythia saß auf einem Dreifuß und weissagte. Die Ratsuchenden nebenan stellten ihre Fragen mit lauter Stimme. Die Priester übersetzten dann die unartikulierten Schreie der Pythia, die sich in Ekstase befand (Links: eine Veroneser Statue der Pythia).

Die Sprüche für Ödipus und Krösus (»Du wirst ein großes Reich zerstören«) waren eigentlich Prophezeiungen, denen nicht zu entkommen war. Krösus griff kühn die Perser an; was aber unterging, war sein eigenes Reich. Wie hätte er das verhindern können? Nicht selten entschied der Orakelspruch über Krieg oder Frieden. Machthaber hörten dabei, was sie hören wollten; und zuweilen spielte auch die selbsterfüllende Prophezeiung mit: Man hielt das Orakel für unfehlbar und verlor den Mut — oder riskierte alles.

In den griechischen Tragödien gibt es immer wieder Vorhersagen, denen man nicht entrinnt. So gab das Orakel in vielen Fällen keine echte Handlungsanweisung. Was wir heute unter Orakel verstehen, ist eine ambivalente (zwiespältige) Aussage, die alles in der Schwebe hält. So waren die Aussagen auch formuliert — und die Priester hatten es natürlich in der Hand, die Ausrufe der Pythia nach Gutdünken zu formulieren. Der Glaube daran, dass wirklich die Gottheit sprach, war damals unerschütterlich.

 

 

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