Die Null

Die ersten Minuten nach dem Aufwachen. Man ist gewissermaßen frisch in der Welt, doch der Ballast der Träume hängt noch an einem dran. Manchmal glotzt man nur vor sich hin, manchmal durchzuckt einen ein Blitz der Erkenntnis, und manchmal sagt man sich nur: »Du bist eine Null. Was weißt du denn? Was kannst du denn?« Aber Hilfe kommt aus der Literatur.

Genial, was Roland Barthes (1915−1980) geschrieben hat, der französische Soziologe. Er rettet mich. Denn er sagt, ja, der Schriftsteller ist eine Null, aber: Es ist die Null, die auf der Tarot-Karte »Der Narr« steht und es ist das Nichts, das im Kartenspiel zum Joker gehört. Der Joker hat »an sich« keinen Wert, jedoch, richtig eingesetzt, führt er zum Sieg, denn er vervielfacht alle Werte. Der Joker ist die Null, die hinten dranhängt und aus zehn hundert macht, aus hundert tausend.   

Barthes hat 1954 das Buch Le degré zero de l’écriture geschrieben, was auf Deutsch zu Am Nullpunkt der Literatur wurde (Suhrkamp 2006), aber gemeint war vermutlich »Die Stunde Null der Literatur«, Brachland und Neubeginn. Vom Tod des Autors hat er auch geschrieben, aber alle diese Diskussionen sind längst vergessen, die Diagnose war richtig, der Autor ist von seinem Podest heruntergeholt worden, was vielleicht gut ist, und heute schreibt er und unterhält, und bisweilen werden seine Werke verfilmt.  

Roland Barthes hat in seinem Buch Die Lust am Text (Le plaisir du texte, 1973) die Erotik eingebracht: »Wenn ich mit Lust einen Satz, eine Geschichte oder ein Wort lese, so sind sie in Lust geschrieben worden. (…) Der Text, den ihr schreibt, muss mir beweisen, dass er mich begehrt. Dieser Beweis existiert: es ist das Schreiben. Das Schreiben ist dies: die Wissenschaft von der Wollust der Sprache, ihr Kamasutra.«  

Dann, was auf viele heutige Bücher zutrifft: »Man legt mir einen Text vor. Der Text langweilt mich. Man könnte sagen, der plappert … Kurz, man kann sagen, ihr habt diesen Text bar jeder Wollust geschrieben; und dieser Plappertext ist im Grunde frigide wie jeder Bedarf, bevor sich in ihm die Begierde bildet, die Neurose.« 

Und in diesem Buch Die Lust am Text steht auf Seite 52 (Suhrkamp, 2010) noch einmal die Charakteristik des Schriftstellers: »Der Schriftsteller befindet sich immer auf dem blinden Fleck der Systeme, er treibt; er ist der Joker, ein Mana, ein Nullpunkt, der Strohmann des Bridge; notwendig für den Sinn (den Kampf), aber selbst bar jeden Sinnes; sein Platz, sein (Tausch-)Wert variiert je nach den Bewegungen der Geschichte, den taktischen Schlägen des Kampfes; man verlangt von ihm alles und/oder nichts.«        

 

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