Die gute Schlange

Ich hatte eine Ehrenrettung für die Schlange anbieten wollen, und nun, nach den dankbaren Toten und dem Giftmädchen, ist dazu Gelegenheit. In einigen Märchen kommt die Schlange gut weg, die, seitdem sie angeblich die Vertreibung aus dem Paradies anregte, ziemlich schlecht dasteht. Schauen wir uns ein paar Märchen und Sagen an.

Kurios wirkt die Geschichte Geist als Schlange, gefunden in dem Buch Alemannische Sagen. Sie spielt in Kippenheim bei Lahr, gelegen zwischen Offenburg und Freiburg und nahe am Rhein.

2023-02-17-0003Einer hochschwangeren Frau von Kippenheim, die mittags in den dortigen Weinbergen schlief, kroch in den offenen Mund eine Schlange. Ihr Kind, welches neben ihr schlief und gerade erwachte, wollte die Schlange noch am Schwanz packen und zurückziehen, allein sie schlüpfte schnell der Frau in den Leib, wobei sie ihr jedoch keine Beschwerden machte. Als diese bald darauf eines Kindes genas, hatte es die Schlange so fest um den Hals liegen, dass man sie nur durch ein Milchbad davon losbrachte. Sie wich aber nicht von des Kindes Seite, lag stets bei ihm im Bett und fraß aus seiner Schüssel. Weil sie ihm dabei nichts zuleide tat und das Kind sie sehr lieb hatte, ließen die Eltern auf den Rat Geistlicher und Weltlicher beide ungestört beisammen.

Das klingt zwar eklig, wird dann aber zu einem Musterbeispiel des Zusammenlebens von Mensch und Tier. Was die in den Mund kriechende Schlange angeht: Tiere als Parasiten, das kennen wir. Denken wir an den Bandwurm, der vielleicht auch nur eine Legende ist. Die Schlange tat der Mutter ja nichts. — Wie geht es weiter? Sechs Jahre später wurde das Kind einmal wütend, weil die Schlange nur Milchsuppe, aber nicht die Brotstücke fressen wollte. Das Kind gab ihm mit dem Löffel eins aufs Haupt. Da begann die Schlange zu trauern und verschwand. In einem Steinhaufen auf dem Hof wurde man fündig:

Darin fand man unten einen Kessel voll Goldstücke und daneben die Schlange tot liegen. Auf einmal war sie weg und es stand ein schneeweißer Mann da und sprach: »Ich war die Schlange, und das Kind zu meiner Erlösung bestimmt; nun habt ihr das Geld und ich bin erlöst!« Nach diesen Worten war er verschwunden.

Schlangen sind anscheinend sensibel, wie wir im nächsten Beispiel sehen, das Der Schlangenkönig und seine Krone heißt.

Bei Wildberg badete sich in der Nagold oftmals eine Schlange, die trug eine Goldkrone auf dem Haupt. Vor dem Baden aber legte sie jedesmal die Krone ab. Das hatte ein Mann aus Wildberg gesehen und lauerte ihr eines Tages auf, als sie ins Bad gegangen war, und stahl ihr die Krone, ohne dass sie es merkte, und flüchtete sich damit auf einen Baum, der in der Nähe stand. Als die Schlange aus der Nagold kam und ihre Krone nicht mehr fand, gab sie einen hellen, schrillenden Ton von sich, worauf mehr als hundert Schlangen von allen Seiten herbeieilten und überall hin- und herliefen und die Krone suchten. Hätten sie den Dieb erwischt, so würden sie ihn umgebracht haben; allein sie entdeckten sein Versteck nicht und gingen traurig wieder fort. Gegen Abend kam die kronentragende Schlange, welche ein Schlangenkönig war, wiederum an den Platz, wo sie sich gebadet und ihre Krone verloren hatte, und starb auf der Stelle. So sehr bekümmerte sie der Verlust der Krone.

Das Symbol für ihre Identität war nicht mehr da, also kam es zur großen Identitätskrise.

Die weiße Schlange

Das Märchen, das die Antwort der Gebrüder Grimm auf die Grateful Dead ist, heißt Die weiße Schlange und könnte auch als ironischer Kommentar zur erwähnten Erbsünde-Geschichte in der Bibel gelesen werden. So fängt es an:

Es ist schon lange her, da lebte ein König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war. Nichts blieb ihm unbekannt, und es war, als ob ihm Nachricht von den verborgensten Dingen durch die Luft zugetragen würde. Er hatte aber eine seltsame Sitte. Jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, musste ein vertrauter Diener noch eine Schüssel bringen. Sie war aber zugedeckt, und der Diener wusste selbst nicht, was darin lag, und kein Mensch wusste es; denn der König deckte sie nicht eher auf und aß nicht davon, bis er ganz allein war. 

thsnakeEines Tages kann sich der Diener nicht beherrschen, trägt die Schüssel in sein Zimmer und schaut hinein: Darin liegt eingerollt eine weiße Schlange. Der Diener schneidet ein Stückchen ab und kostet es — und plötzlich kann er verstehen, was die Tiere sagen. Das hilft, als der Diener beschuldigt wird, einen Ring der Königin entwendet zu haben. Zufällig hört er drei Enten sich unterhalten, und eine sagt, sie habe etwas aus Metall verschluckt … Der König fühlt sich schuldig und bietet dem Diener hohe Posten an; der will aber nur ein Pferd und Geld und auf Reisen gehen. An einem Teich sieht er drei Fische, die in einem Rohr gefangen sind und rettet sie. Der Ameisenkönig klagt, sein Pferd trete seine Leute nieder; der Reiter weicht aus. In einem Wald liegen drei Rabenjungen und haben Hunger. Der Mann schlachtet sein Pferd und gibt es ihnen zur Nahrung. Und die Tiere sagen jeweils, weil sie dankbare Tiere sind (Grateful Animals):

Wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten.

In einer Stadt sucht eine Königstochter einen Gemahl, der schwierige Aufgaben erfüllen muss. Wiederum werden es drei sein, die magische Zahl im Märchen. Der König wirft einen goldenen Ring ins Meer, der junge Mann soll ihn holen — und die drei Fische, die er gerettet hat, tun es. Er soll einen Sack Hirse, ins Gras gekippt, bis zum nächsten Morgen auflesen — die Ameisen helfen ihm. Nun will das hochmütige Fräulein noch einen goldenen Apfel vom Baum des Lebens. Unmöglich. Der junge Mann setzt sich resignierend in den Wald — da plumpst der Apfel in seinen Schoß, und die Raben teilen mit, sie seien übers Meer geflogen bis ans Ende der Welt, wo der Baum des Lebens steht und hätten ihm den Apfel geholt. Die Raben tun das, die ja wie Schlangen und Ameisen nicht besonders beliebte Tiere sind! Die Grimms (Jacob, 1785-1863 und Wilhelm, 1786-1859) halfen ihnen auf.

Jetzt werfen wir einen Blick in die Bibel. In der Genesis 2,8 legte Gott der Herr den Paradiesgarten an, und in der Mitte des Gartens war der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. In Gen 3,1 heißt es:

Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott gemacht hatte.

istockphoto-639884396-612x612Die Frau fürchtet, sie müssten sterben, wenn sie vom Baum äßen. doch die Schlange packt sie bei ihrem Ehrgeiz und Machthunger, die schon bei den ersten beiden Menschen da war:

Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.

Die Frau aß demnach von den Früchten des Baums des Lebens und gab auch ihrem Mann. Auf die Vorwürfe Gottes sagt sie, die Schlange habe sie verführt, und so habe sie gegessen. (Bild: etwas kitschig, aber Royalty free!)

Und zum Schluss der hübsche Schluss der weißen Schlange, die von Grateful Beasts (dankbaren Tieren) handelt und gewissermaßen einen Wiedereintritt in ein Paradies durch eine Frucht verkündet; so schrieben die Grimms die Bibel um:

Voll Freude machte sich der Jüngling auf den Heimweg und brachte der schönen Königstochter den goldenen Apfel, der nun keine Ausrede mehr übrigblieb. Sie teilten sich den Apfel des Lebens und aßen ihn zusammen: da ward ihr Herz mit Liebe zu ihm erfüllt, und sie erreichten in ungestörtem Glück ein hohes Alter.

 

 

 

 

 

 

 

 

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