Halte den Becher hin

Dann sprach Alessandro in Santa Marinella plötzlich von der »abbondanza«, an die er glaube: an die Fülle um uns her. Wir dürfen uns ihrer bedienen, alles ist da, alles strömt über, alles wartet auf uns. Ich dachte mir, dass die Fülle auch ein Schlüsselwort für mich war, denn sie bereitet Sorgen. 

Wir nicht mehr ganz so jungen Leute sind meist bescheiden aufgewachsen, man sagte uns, sparen schändet nicht und: Pass auf deine Sachen auf, sei immer zufrieden,  übertreibs nicht. Das griechische Maß. Niemals sah ich glücklich enden … Meine Mutter sagt ja sogar manchmal, ihr wäre es nicht recht, im Lotto zu gewinnen, das brächte nur Unglück. Dabei ist sie ein Mensch, der bestimmt nicht zur Verschwendung neigt, sie würde haushälterisch mit einer Million umgehen, aber anscheinend würde sie sich nicht wohl damit fühlen. 

Das ist bei mir ja auch so. Ein voller Kühlschrank bereitet Unbehagen. Das Zuviel ängstigt einen. Man akzeptiert sogar eher noch ein Zuwenig, weil man meint, das passe zu einem. Nicht aber das Nichts, das ist ziemlich unheimlich, obwohl ja Gott die Welt aus Nichts geschaffen hat und unser kosmisches Nichts nicht leer ist, sondern aus viel Antimaterie besteht und dunkler Materie und alles pulsiert.

 Dann saß ich in Santa Marinella und musste viel erledigen, erst zum Supermarkt, dann schauen, wo es Internetverbindung gibt, eine Rennradtour machen, dies und das. Eins nach dem anderen. Mit der Fülle kann man klarkommen, wenn man sie strukturiert, und eigentlich ist es leichter, eine Fülle zu reduzieren, als einem Mangel abzuhelfen. Man muss sich auch klarmachen, dass man in der Fülle lebt, dass diese Welt bunt ist und auf unser Bewusstsein reagiert. Ich kann die Dinge herbeirufen.  

Alessandros Bemerkung von der abbondanza, von der er lebe, erinnerte mich an das Buch Die Weisheit der Meister des Fernen Ostens von Baird T. Spalding (etwa 1911 bis 1964, 5 Bände, der Autor wurde 93 Jahre alt), in der Reisende in Tibet weise Männer treffen (Frauen auch), darunter Jesus und Buddha, und eine Frau rät, und daran denke ich oft: »Halte den Becher hinaus, bis er gefüllt ist und überströmt!« Die Wohltaten seien da, alles sei für uns da, in reicher Fülle. Sie, die Meister, lebten auch andauernd im Reichtum nicht nur spiritueller Art. Christus sagte auch: »Geht mit mir, und ihr werdet das Leben in Fülle haben.« 

Ich denke auch kurz an die Natur. Sie ist keine verhärmte Philosophin, die rechnet und die natürliche Selektion beobachtet. Von allem ist zuviel da, ein ästhetischer und numerischer Überschuss, Farben und Ideen und Formen, alles blüht und zaubert und wächst. Unsere Konsumwelt ist ja genauso. Die 20- oder 30-Jährigen werden mit der Fülle kein Problem haben.    

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