Atemzüge eines Sommertags

»Ing. Dr. phil. Robert (Edler von ) Musil. Geboren 6. November 1880, Klagenfurt in Österreich.« So hat sich der Autor vorgestellt. Am 15. April 1942 starb er in Genf. Musil hat den Mann ohne Eigenschaften geschrieben (1600 Seiten), mein Lieblingsbuch. Und da er nun über 70 Jahre tot ist, gilt sein Werk als gemeinfrei, und ich darf nach Herzenslust aus ihm zitieren. Meine Lieblingspassage ist Fragment geblieben.

Vor vielen Jahren warf ich in Genf einen Blick in den Garten, in dem die Liegestühle standen.  Ich halte den Absatz mit dem »geräuschlosen Strom« für eine der schönsten Stücke deutscher Prosa, es ist wie ein Gedicht. Robert Musil war Mathematiker und Mystiker, ihm schwebte eine »leidenschaftliche Präzision« vor. Dies hier wird nicht der letzte Auszug aus dem MoE sein, wie man den Roman gern kurz nennt.      

»Die Sonne war unterdessen höhergestiegen; die Stühle hatten sie wie gestrandete Boote in dem flachen Schatten beim Haus zurückgelassen, und lagen auf einer Wiese im Garten unter der vollen Tiefe des Sommertags. Sie taten es schon eine ganze Weile, und obgleich die Umstände gewechselt hatten, kam es ihnen kaum als Veränderung zu Bewusstsein. Ja, eigentlich tat dies auch nicht der Stillstand des Gesprächs; es war hängen geblieben, ohne einen Riss verspüren zu lassen.  

Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe her kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, dass sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug und Naturfest teilnahmen. Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen. ›Da ward mir das Herz aus der Brust genommen‹, hat ein Mystiker gesagt: Agathe erinnerte sich dessen.  

Auch wusste sie, dass sie selbst diesen Ausspruch Ulrich aus einem seiner Bücher vorgelesen hatte. 

Hier in dem Garten, nicht weit von dem Platze, wo sie sich jetzt befanden, war das geschehen. Die Erinnerung wurde vollständiger. Auch andere Aussprüche, die sie ihm ins Gedächtnis gerufen hatte, fielen ihr ein: ›Bist du es, oder bist du es nicht? Ich weiß nicht, wo ich bin; noch will ich davon wissen!‹ − ›Ich habe alle meine Vermögen überstiegen, bis an die dunkle Kraft! Ich bin verliebt, und weiß nicht in wen! Ich habe das Herz von Liebe voll, und von Liebe leer zugleich!‹–

Also klang in ihr die Klage der Mystiker wieder, in deren Herz Gott so tief eingedrungen ist wie ein Dorn, den keine Fingerspitzen fassen können. Viele solche selige Klagen hatte sie Ulrich damals vorgelesen. Vielleicht war die Wiedergabe jetzt nicht genau, das Gedächtnis verfährt etwas befehlshaberisch mit dem, was es zu hören wünscht; aber sie begriff, was gemeint war, und fasste einen Entschluss. Wie in diesem Augenblick des Blütenzugs hatte der Garten also schon einmal geheimnisvoll verlassen und belebt ausgesehen; und zwar gerade in der Stunde, nachdem ihr die mystischen Bekenntnisse in die Hand gefallen waren, die Ulrich unter seinen Büchern besaß. Die Zeit stand still, ein Jahrtausend wog so leicht wie ein Öffnen und Schließen des Auges, sie war ans Tausendjährige Reich gelangt, Gott gar gab sich vielleicht zu fühlen. Und während sie, obwohl es doch die Zeit nicht mehr geben sollte, eins nach dem andern das empfand; und während ihr Bruder, damit sie bei diesem Traum nicht Angst leide, neben ihr war, obwohl es auch keinen Raum mehr zu geben schien; schien die Welt, unerachtet dieser Widersprüche, in allen Stücken erfüllt von Verklärung zu sein.«      

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