Von einer Welle der Schöpfung gehoben

Noch einmal ein längerer Auszug aus dem Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, diesem nicht ganz vollendeten Lebenswerk von 1600 Seiten. Musil schrieb vollendete Prosa, und dass er Schweigen anmahnt, wo man nichts zu sagen habe, ist kein Widerspruch: Er hatte viel zu sagen. Die wichtigen Dinge aber, das erkannte er, sind kurz darstellbar.

»Es gibt geistige Tätigkeiten, wo nicht die großen Bücher, sondern die kleinen Abhandlungen den Stolz eines Mannes ausmachen. Wenn jemand beispielsweise entdeckte, dass die Steine unter bisher noch nicht beobachteten Umständen zu sprechen vermögen, er würde nur wenige Seiten zur Darstellung und Erklärung einer so umwälzenden Erscheinung brauchen. Über die gute Gesinnung dagegen kann man immer wieder ein Buch schreiben, und das ist durchaus nicht bloß eine gelehrte Angelegenheit, denn es bedeutet eine Methode, bei der man mit den wichtigsten Lebensfragen niemals ins klare kommt.« 

»Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt. Alle Erkenntnisse, durch die unsere Gattung von der Fellkleidung zum Menschenflug geführt worden ist, würden samt ihren Beweisen in fertigem Zustand nicht mehr als eine Handbibliothek füllen; wogegen ein Bücherschrank von der Größe der Erde beiweitem nicht genügten möchte, um alles übrige aufzunehmen, ganz abgesehen von der sehr umfangreichen Diskussion, die nicht mit der Feder, sondern mit Schwert und Ketten geführt worden ist. Der Gedanke liegt nahe, dass wir unser menschliches Geschäft äußerst unrationell ebtreiben, wenn wir es nicht nach der Art der Wissenschaften anfassen, die in ihrer Weise so beispielgebend vorangegangen sind.« 

»Das ist auch wirklich die Stimmung und Bereitschaft eines Zeitalters − einer Anzahl von Jahren, kaum von Jahrzehnten − gewesen, von der Ulrich noch etwas miterlebt hatte. Man dachte damals daran − aber dieses ›man‹ ist mit Willen eine ungenaue Angabe; man könnte nicht sagen, wer und wieviele so dachten, immerhin, es lag in der Luft −, dass man vielleicht exakt leben könnte. Man wird heute fragen, was das heiße? Die Antwort wäre wohl die, dass man sich ein Lebenswerk ebensogut wie aus drei Abhandlungen auch aus drei Gedichten oder Handlungen bestehend denken kann, in denen die persönliche Leistungsfähigkeit auf das Äußerste gesteigert ist.«

»Es hieße also ungefähr soviel wie schweigen, wo man nichts zu sagen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts Besonderes zu bestellen hat; und was das Wichtigste sit, gefühllos zu bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Welle der Schöpfung gehoben zu werden! Man wir bemerken, dass damit der größere Teil unseres seelischen Lebens aufhören müßsste, aber das wäre ja vielleicht auch kein so schmerzlicher Schaden.«

(in: MoE, Stuttgart, Zürich, Salzburg 1960, S. 245/246)         

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