Bestandsaufnahme

Man kommt nach einer Woche wieder zurück, schon liegen zwei neue Karten unterschriftsbereit da, Visa und die Bahn-Card 25. Nanu; ja, ich hatte vergessen, sie zu kündigen, wird automatisch verlängert. Du klebst als Abonnent überall fest. Plötzlich hatte ich das Gefühl, von Sparkasse, Deutscher Bahn, Telekom und AOK eingekreist zu sein.

Ein paar Schlaglichter auf das Heute: FAZ und La Repubblica haben Artikel über die »selfies« (so heißen die also). Beim Feuerwerk und überall strecken die jungen Leute ihren Arm aus und knipsen sich selbst, und dann stellen »sie sich« auf Facebook. Es ist so simpel: In einer materialistischen Gesellschaft bin ich mein Gesicht und mein Körper. Ich grüble und wühle nicht mehr in meinen Gedanken herum und schreibe Tagebuch oder führe ein Poesie-Album (das war putzig, diese Einrichtung!); nein, ich fotografiere mich. So sieht man ja alles, was ist.  

Plakate in der Schweiz: »Ich kann!« Erinnert an Obamas Losung, ist aber von Orange. Ich kann mich abonnieren; das ist es, was ich kann. »Jetzt tu ich’s!« Klingt dramatisch; welche große Veränderung leite ich ein? Ich entscheide mich für Ökostrom, auf deren Plakaten steht der Spruch. Wie die Konzerne und Organisationen existenzielle Ausdrücke für ihren Käse kapern, ist frech und einfach unethisch. So wird gebremstes Pathos vom Konsum vereinnahmt, und die Begriffe werden entwertet. »Nichts ist unmöglich« war Toyota, oder?  

Und ein Journalist (Matthias Matussek) wehrte sich gegen eine Talkshow, in der ihn der Gastgeber auflaufen hatte lassen und anscheinend niveaulos niedermachte. So etwas gefällt den Leuten, darum sucht man sich böse Talkmaster, sogar das öffentlich-rechtliche Fernsehen sucht sie sich. Alles wird grimmiger und bedeutender zugleich, aber dahinter steckt nur sinnlose Hektik und bodenlose Leere.  

Was mir auch auffällt: In der Schweiz geht es in der Geschäftswelt nicht so aggressiv zu wie in Deutschland. Wenn man sich manchmal bei gmx.de einloggen will, schiebt sich Werbung darüber, dass es eigentlich nicht geht, ohne das Banner darüber anzuklicken. Das ist einfach mies. Logg dich bei gmx.ch ein: kein Problem. Deutsche Organisationen drillen ihre Leute. Der deutsche Soldat sitzt heute im Call-Center der Telekom.  

Andere rufen dich an und flöten. Die AOK hat kostenfreie Gesundheitsprogramme (»waren Sie auch zufrieden mit der Beratung, schauen Sie doch auf der Homepage nach …«), die Bahn rechnet wild mit ihren Bonuspunkten herum und bietet 10-Euro-Gutscheine: Alle wollen sich in dein Leben drängen und ein Sinnfaktor sein, mehr als eine Versicherung, mehr als ein Transportunternehmen. Sie wollen unsere Aufmerksamkeit, aber sie sind nur penetrant. Ich will nur meine Ruhe, will den Zug nehmen und versichert sein und nicht darüber nachdenken müssen.  

Die Wirtschaft will das werden, was die Kirche früher war: Alleinherrscherin über die Seelen. Damals stand die Kirche stark gegen den Staat, heute ist die Wirtschaft der große Widerpart. Früher die zehn Gebote, heute die zehn neuen Sonderangebote. Die Konsumwelt will unsere Herzen erobern, aber sie hat nur Produkte zu bieten und Gelaber, und es wird nicht klappen.

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