Belsazar

Die folgende beklemmende Episode zu den Tonbandstimmen hat etwas mit Heinrich Heine zu tun. (Was er wohl von meinem gestrigen Gedicht hält?) Ich hatte sie für ein Buch geschrieben, das einfach undruckbar war, und nun dienen mir die 300 Seiten als Steinbruch. Die Geschichte über Klaus Schreiber habe ich da herausgebrochen.   

Dass da ein »kleiner, liebenswürdiger Mann möglicherweise die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht hat«, meint der Journalist Rainer Holbe im Vorwort zu seinem Buch Bilder aus dem Reich der Toten (1987). Die Schreiberschen Experimente begannen mit einem Erweckungserlebnis. Holbe erzählt es mit leichtem Schaudern und unverhohlenem Stolz nach, hatten doch seine Unglaublichen Geschichten auf RTL den Anstoß gegeben. Die Geschichte ist ein Klassiker, ein Archetypus; und sie erinnert stark an das Gedicht Belsazar von Heinrich Heine, der die Geschichte vom Gastmahl Belschazzars erzählt (Altes Testament, Buch Daniel, 5,1–28; das Menetekel an der Wand.)

Klaus Schreiber, erfahren wir, »ist ein fröhlicher Mann«. Mit 59 Jahren ging er in die Rente und hatte noch »seine Frau Agnes, die Kinder und das kleine Reihenhaus am Stadtrand von Aachen.« Am Stadtrand von Aachen, da ist es ruhig. Die Mitternacht zog näher schon / In stummer Ruh lag Babylon.

In stummer Ruh lag Babylon (Leverkusen, 2012)

Schreiber hat wie andere Landsleute seinen Kellerraum zum Partyzimmer ausgestaltet. »Hier unten traf sich Schreiber regelmäßig mit Stammtischbrüdern, Nachbarn und Freunden aus der Schulzeit. An diesem späten Nachmittag im Frühjahr 1982 war das nicht anders. Biere wurden gekippt und manch klarer Schnaps ausgeschenkt.« Die Knechte saßen in schimmernden Reihn / Und leerten die Becher mit funkelndem Wein. / Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht; / So klang es dem störrischen Könige recht.

Jemand erwähnt die Unglaublichen Geschichten, man diskutiert, die einen halten es für Spinnerei, tot ist tot, da helfen keine Pillen; andere meinen, es könne ja was dran sein. Des Königs Wangen leuchten Glut; / Im Wein erwuchs ihm kecker Mut. / Und blindlings reißt der Mut ihn fort / Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort. »›Probieren wir es doch einfach mal aus‹, rief Klaus Schreiber dazwischen. ›Hier habe ich einen Kassettenrekorder und eine leere Kassette. Es soll doch ziemlich einfach sein, die Toten zu rufen!‹« Man denkt gleich an den kürzlich verstorbenen Dachdecker Peter. »An der Bar war es still, als Klaus Schreiber den Kassettenrekorder einschaltete. ›Hallo Peter! Wo bist du? Komm, trink ein Schnäpschen mit!‹ sagte er und den Freunden lief ein leichter Schauder über den Rücken.«

Doch kaum das grause Wort verklang / Dem König ward’s heimlich im Busen bang. / Das gellende Lachen verstummte zumal; / Es wurde leichenstill im Saal. Nach zehn Minuten »schaltete Schreiber ab und ließ die Kassette zurücklaufen. Gespannt hörten die Männer das Band ab. … Schreiber wollte schon enttäuscht abschalten, da hörten sie es alle – ›Hallo, Freunde!‹« Und sieh’ Und sieh’ An weißer Wand / Da kam’s hervor wie Menschenhand. / Und schrieb und schrieb an weißer Wand / Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand. / Der König stieren Blicks da saß, / Mit schlotternden Knien und leichenblaß. / Die Knechtenschar saß kalt durchgraut. / Und saß gar still, gab keinen Laut.

Und schrieb und schrieb an weißer Wand … (Aquarell von mir)

Holbe fährt fort: »Sie verstanden es sofort und wurden bleich. Niemand von ihnen hatte diese Worte vorher auf Band gesprochen. … An diesem Abend wurde nicht mehr viel gesprochen im Partykeller von Klaus Schreiber. Die Stimmung war verflogen; die Freunde verabschiedeten sich schnell.« Belsazar ward aber in selbiger Nacht / Von seinen Knechten umgebracht. Das nun nicht; aber »die meisten von ihnen sind seit dieser Stunde nicht wiedergekommen. Frohe Feste finden jetzt nicht mehr statt. ›Ich bin ein einsamer Mann geworden‹, sagt Schreiber. ›Aber mein Leben hat einen anderen Sinn bekommen. Ich weiß, dass mit dem Tod das Leben nicht zu Ende ist. Und ich weiß, dass alle meine Lieben im Jenseits glücklich sind!‹«

Im August 1960 starb Schreibers Ehefrau Gertrud bei der Geburt der Tochter Karin, 34 Jahre alt. Von den vier Kindern starb die Tochter Karin 1978 an einer Blutvergiftung, der 1946 geborene Robert 1968 bei einem Motorradunfall. Vater Robert Schreiber ging 1963 davon, mit 65 Jahren; die Mutter Katharina, 1986 geboren, 1977. Vor Weihnachten 1986 brach dann Klaus Schreibers zweite Ehefrau Agnes tot im Wohnzimmer des Reihenhauses zusammen. Bald nach Agnes’ Tod bekam er Botschaften auf Band wie »Hallo, Klaus, bin wieder da — Bin wieder bei euch — Ist hier herrlich schön — Grüße an alle –  Klaus, wir kommen. Macht alle Lichter an.« 

Der Experimentator hatte viel Kontakt zu seinen Verstorbenen. Er empfing sie mit dem Kassettenrekorder, der von einem Kurzwellenempfänger weißes Rauschen aufnahm. Klaus Schreiber selbst machte sich mit Feuereifer an die Arbeit, als hätte er gewusst, dass ihm wenig Zeit blieb. Es waren knapp sechs Jahre. Am 7. Januar 1988 ist er gestorben. »Bereits während seiner Beerdigung meldete er sich auf dem Tonband einer Bekannten«, schreibt Hildegard Schäfer. »Von diesem Zeitpunkt an konnte man von vielen Experimentatoren erfahren, dass sie Kontakte mit Klaus Schreiber erhielten. Er meldete sich in seiner humorvollen, unverwechselbaren Art bei seinen Freunden und Verwandten.«

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.