Cori

Helmut fand, ich hätte Alfred Andersch etwas schnöde und oberflächlich behandelt. Er sei ein facettenreicher Schriftsteller gewesen. Da hat er schon recht. Da Andersch in drei Tagen seinen 100. Geburtstag hat, will ich ihm Genugtuung widerfahren und ihn zu Wort kommen lassen: Aus einem römischen Winter, passend zur Jahreszeit.  

 Am 4. Februar kann »Fred« leider nicht zum Zug kommen, denn an dem Tag wird Alexander Imich 111 Jahre alt. Fred könnte auch noch leben, doch er ist 1980 gestorben, auch im Februar, am 21.  jenes Jahres.

Als Einleitung schreibt Andersch (in den 1960-er Jahren) über die »Beton-Woge der zukünftigen Slums, in der Rom erstickt«, vom »Inferno der Autos« und klagt: »Eine toll gewordene Spekulanten-Bande, eine rasende Kamarilla von Großverdienern ist dabei, Rom dem Chaos zu überliefern.« (Heute würde er für futura99 schreiben.) Die Barbaren gebäre Italien aus sich selbst, und sie seien nur »Handlanger des Weltgeistes«. Aber wir sehen: Auch nach 50 Jahren steht Rom noch. Ein Untergang reicht. Vielleicht sollten wir den Menschen nicht unterschätzen. Er ist zäh.  

Doch dann wird Fred lyrisch, und das macht er gut. Ich weiß übrigens auch noch, dass ich in Rom gefroren habe wie nie zuvor. Es war kalt, und der einzige Heizkörper im Salon (40 Quadratmeter) war dünn wie ein Blatt Papier.  

»Wir hatten einen harten Winter in Rom, mit grauem Licht, Eis-Tramontana und Schneeschleiern auf den Straßen. Im Januar fuhren wir nach Cori. Gegen zehn Uhr kam die Sonne heraus. Die Eichenwälder in den Albanerbergen waren durchsichtig bis auf den roten Grund ihrer Böden, also silbern und rostrot. (…) In Nemi war kein Mensch auf der Straße, und der See war blau vor Kälte. (…)«

»Hinter Velletri gerieten wir in eine Bauernsenke, die schon ganz kampanisch war. Kleine rote und gelbe Gehöfte, Strohschober, zerfallende Mauern um Felder-Kram, zweirädrige Karren, die mit ihren Doppeldeichseln in den Sonntag zeigten … Hier war es fast warm. Wir setzten uns auf eine gefällte Pappel und aßen zu Mittag, aus dem Rucksack Salami, Provolone und Brot. Hinterm Schilf schrie ein Esel. Als wir unser tiefes Mittagsversteck verließen, sahen wir die Volsker-Berge, ihre weißgrauen Steine, ihre durchsichtige Freiheit aus Aschen-Karst, baumlos. Weiter unten zog sich der Olivenwald über ihre Hänge wie Grünspan, aus der Ferne wie eine Decke aus altem, silbernen Moos. (…)« 

»In Cori stiegen wir lange durch Treppenstraßen bis zum Herkules-Tempel hinauf. Wir traten in einen Hausflur, an dessen Ende ein Balkon leuchtete, von dem aus wir über den pontinischen Acker und das Meer blickten. Der Tag war nicht allzu klar, aber wir sahen im Süden das Kap der Circe als Dreieck über dem Meer stehen. Das Travertin der neun dorischen Säulen des Tempels von Corae hat in zweitausend Jahren eine bläuliche Farbe angenommen, die Farbe der Flügel des Perlmutt-Falters. Blau, leicht und griechisch steht das Atrium über den pelasgischen Mauern. Durch die Säulen hindurch sahen wir auf die Alba des Karstgebirges, und wir wünschten uns, auf diesen Höhen zu wandern.«

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