Alice Munro

Dieser Monat endet bei manipogo mit Rezensionen. Vor zwei, drei Jahren hatte mir Rolf Hannes schon von den Erzählungen der Alice Munro vorgeschwärmt, ich fand sie großartig, und vergangenen Herbst bekam sie den Literatur-Nobelpreis. Gerade vertiefte ich mich in die 14 Erzählungen ihres neuesten Bandes, Liebes Leben, und dachte mir: Das muss man gut betrachten.

Leider stimmen mich ihre Erzählungen traurig. Giovanna meinte auch, sie seien ziemlich grausam. Ja, sie sind schonungslos und trotz allem schön geschrieben, aus dem Leben gegriffen, und ist es das, was mich stört? Die Geschichten sind realistisch und illusionslos, meisterhaft knapp hinskizziert, mit überraschenden Pointen und offenen Schlüssen.  

Aber es ist auch eine Literatur, die unsere Zeit widerspiegelt, und darum findet sie auch so viel Anklang. Männer sind Kotzbrocken, statt göttlicher Eingriffe Zufallsbegegnungen, und es ist eigentlich egal, wie der Zufall fällt, es kommt immer etwas Deprimierendes heraus, ein Leben in Einbauküchen und Einfamilienhäusern, die Schatten der Vergangenheit, Traumata und öde Treffen mit öden Leuten, genau so, wie das Leben eben ist.  

Illustration: Rolf Hannes

In der Sammlung „Tricks“ sind noch ein paar Hoffnungsschimmer vorhanden: Menschen kommen nicht zueinander, die einander vielleicht zugedacht waren, da schimmert so etwas wie Utopie durch, die bei „Liebes Leben“ – jetzt, ein paar Jahre später – geleugnet wird. Da ist die Frau, die von einem Bewerber verladen wird, ihn trotzdem nie vergessen konnte, einen anderen geheiratet hat (das ging auch nicht gut), und dann geht der Verflossene an ihr vorbei, und sie denkt: »An Liebe ändert sich nie etwas.« Sie liebt immer noch und hat die schematische Werbung des anderen für Liebe gehalten, fertig.  

Dieses Kanada, in dem Munros Geschichten spielen, ist geschichtslos und ereignislos, zum Glück. Es ist wie das Land, in dem wir alle leben, in dem die Dinge funktionieren und Leute irgendwie und auch meist recht gut ihr Dasein fristen, trotzdem unzufrieden sind  und am Ende sagen: Wir hätten ja gern ein anderes Leben gehabt, aber es war halt so.  

Nicht dass ich ein großer Kämpfer oder einer mit rosaroter Brille wäre … Aber ich möchte glauben, dass alles wunderbar werden kann und paradiesisch, auch auf der Zielgeraden, und dass das Nichtverwirklichte alles für die Zukunft verspricht. Das fehlt mir bei der Munro, aber gut, sie ist schon 83 Jahre alt, da fällt das vermutlich schwer.

3 Kommentare zu “Alice Munro”

  1. Hans

    … Aber ich möchte glauben, dass alles wunderbar werden kann und paradiesisch, …

    das sage ich auch immer – schafft das Paradies auf Erden, anstatt endlos zu warten – wo ist das Problem …

    ich denke das Problem sind die Religionen, würde man es nämlich machen, dann wäre das Geschäftsmodell der Religionen, das Paradies im Jenseits nicht mehr tragfähig, somit ist die Wurzel des Übels in dem kleinen Wort glauben versteckt – und meine Schlussfolgerung – Glauben ist der Blinddarm des Geistes. Sei hier und jetzt und vergiss den Glauben.

  2. Rolf Hannes

    Hoppla, lieber Manfred, kann ich nur sagen, was Du da über die Munro sagst, kann ich gar nicht nachvollziehen. Gestern hast Du mir ihr Buch geliehen, hab also erst eine Geschichte gelesen, die erste. Und die ist wieder so voller Intelligenz, literarischer Intelligenz, ich war ganz entzückt. Und sie ist auch voller Liebe. Guck Dir die Situation an, wo die Mutter ihre kleine Tochter sucht und wiederentdeckt. Ganz groß. Sollten wir, Du und ich, wenn wir die gleiche Geschichte lesen, umgrunde zwei verschiedene Geschichten lesen? Gelesen wird ja nicht nur im Kopf, auch im Herzen lesen wir. Und mein Herz war ganz im Einklang mit Alice Munro. Und was Du zum Alter sagst (und zu Kanada), hör mal Jungchen, das stimmt doch hinten und vorn nicht. Was stimmt ist: Munro ist bei aller Herzenswärme nicht sentimental. Sentimentalität, überbordende Sentimentalität, ist ja tödlich für gute Literatur. Und eh die Munro schöne Geschichten schreibt, schreibt sie lieber großartige Literatur. Ich bin ganz neidisch auf diese Frau, so möchte ich gern schreiben können.
    Bis bald
    Rolf

  3. web108

    Lieber Rolf! Na, nun wirst du aber schwärmerisch. Ich habe ihr ja ihren großen Rang nicht abgestritten, aber nun zu sagen, sie sei „voller Liebe“ und „Herzenswärme“, ist bestimmt übertrieben. Sie kennt eben den Menschen und registriert Empfindungen. Nicht sentimental ist sie, aber zwischen Schonungslosigkeit und „überbordender Sentimentalität“ ist viel Platz. Ich wollte nur rasch in mich gehen und habe mich gefragt, warum mich ihre Geschichten traurig stimmen. Du liest da wieder Ablehnung heraus und bist empört. Schau nochmal kühl darauf, und du wirst sehen, dass ich nicht ganz unrecht habe, ciao Manfred.