Das Zitat

Ausführlich hatte ich aus Moderne Leiden von Edward Shorter zitiert, dem 1941 geborenen kanadischen Medizinhistoriker. Nun weiß ich, wie spannend  Medizingeschichte sein kann. Zum Abschluss nun den Beitrag, den ich als Anfangsbeirag gedacht hatte, und es geht um das Zitat, das ich, wie man weiß, ausgiebig einsetze, und irgendwie kann ich nicht anders.

Der Historiker erwähnt den deutschen Psychiater Wilhelm Griesinger (1817-1868). In einer Anmerkung schreibt Shorter: »Ein häufig Griesinger zugeschriebenes Diktum konnte ich in seinen Werken nicht finden: ›Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten.‹ In dieser Formel ist jedoch in der Tat die Quintessenz seines Denkens zusammengedrängt.« 

Da fiel mir ein, dass ich vergangenes Jahr, als ich über die Zeit schrieb, auf eine Aussage über den griechischen Denker Heraklit stieß. Der Spruch »Alles fließt«, was alle von ihm kennen, sei in seinen Werken nicht aufzufinden. Man meint aber, es müsse von ihm sein. 

Illustration: Rolf Hannes

Der Gedanke liegt nahe, dass manche Zitate – wichtige Aussagen von wichtigen Denkern – nicht authentisch sind. Jemand erfindet es vielleicht, ein anderer zitiert aus diesem Werk, man weiß nicht mehr, wo das Original zu finden ist, und alle meinen, der Mann müsse es gesagt haben, weil es so richtig klingt. Das Wahrscheinliche setzt sich durch, nicht das Wahre. Am Ende meinen alle, das Zitat sei von dem großen Denker.  

Da hat einer so viel Wichtiges gesagt, aber das Wichtigste nicht, was sein Denken bündig zusammenfasst. Irgend jemand findet dann die Formel, und der Denker könnte es ja gesagt haben, es klingt so logisch, und alle sind überzeugt. Wir haben gern alles gerafft, in Kürze, in a nutshell,  als Bild oder Spruch oder Motto, kurz und knackig. So einfach ist das Leben zwar nicht, und so biegt man sich’s eben zurecht.

Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai schrieb einmal: »Auch ich schwieg; mir fehlte das Mot juste – das gewisse Wort, das bildhaft die Wirklichkeit zeigt, das Wort, das alles aufdeckt, wovon die imagistischen Schriftsteller träumen.« Das Wort eines Berühmten  heißt es ja auch, als Ausdruck für ein ganzes Zitat. Das mot juste ist das richtige Wort.  Es ist wie ein Zauberspruch und erhellt alles.  Auch Bilder stehen manchmal für ein ganzes Geschehen und prägen sich ein, und auch sie sind nicht immer authentisch.

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.