Dampfkochtopf

Noch ein Fundstück von Edward Shorter aus seiner Medizingeschichte Moderne Leiden. Darin gibt es Erkenntnisse, die einen treffen. Geschichte ist ja meist die der Kriege und Eroberungen, der »Fortentwicklung« der Zivilisation, oder es geht um die Wissenschaft und die Kultur. Hier geht es um das Gefühlsleben und die Familie.

Shorter behauptet: »Gefühlsbeziehungen vor 1800 lassen sich im allgemeinen als kühl charakterisieren; sie zielten mehr auf die Erhaltung des Namens und des Besitztums der Familie als auf die Pflege von Gefühlsverbundenheit.« Daran kann man natürlich kritisieren, dass nur die gemeint waren, die etwas zu vererben hatten.  

Da haben wir wieder ein schönes Beispiel für eine starke, pointierte Aussage, die ungerecht wirken könnte. Aber der Autor legt uns das hin, um seine Argumentation zu unterstützen, und es funktioniert auch. Natürlich gab es Liebe immer, zu allen Zeiten. Es wurde auch immer darüber geschrieben. Interessant ist die Veränderung Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Empfindsamkeit als Reaktion auf die Aufklärung zu regieren begann. Laurence Sterne; Klopstock! Bald kamen die heißblütigen Stürmer und Dränger, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde es romantisch. Die Literatur zeigte, wie die Geschlechter miteinander umgingen. (Illustration: Familie in Columbus, Mississippi. Foto von Lewis Wickes Hine, 1879-1940, Library of Congress, Wash. D. C.) 

Shorter weiter: »Dann jedoch begannen sich … Anfang des neunzehnten Jahrhunderts … neue, intimere Bindungen zwischen Eheleuten herauszubilden mit dem Effekt einer engeren Gefühlsbindung auch zwischen Eltern und Kindern. (…) Das bedeutete einen enormen Wandel in den Formen des Privatlebens, einen Wandel, der auf die Umgestaltung der Familie zu so etwas wie einem emotionalen Dampfkochtopf hinauslief.« 

Familie bezieht einen Campingwagen in San Diego. 1941. Foto von Lee Russek (1903-1986), Library of Congress, Wash. D. C.

Es ist schön, wie er das herausarbeitet. Die Familie war vorher porös, also von außen kontrollierbar und auch zugänglich für Außenstehende; nun wurde sie »zu einem hermetischen Ort der Privatheit und Intimität«, zu einer »nach innen orientierten Intimgemeinschaft voller Heimlichkeiten«. Für die Medizingeschichte war dies insofern wichtig, als junge Frauen – als Frauen ohnehin ohne Einfluss – in der Enge und unter dem Druck »somatisierten«, also Hysterien und Lähmungen entwickelten.  

Auch die Folgeerscheinungen hat Edward Shorter im Griff. Das Idyll bekam Risse. Zwar erschien das Buch Moderne Leiden bereits 1992, doch auch heute treffen die Aussagen noch zu. »Außereheliche Beziehungen beider Ehepartner sind keine Seltenheit, und nach der Scheidung trudeln die Ex-Partner wieder in die Welt der Beziehungen ab, das Konzept der ›Beziehung‹ hat die Institution Ehe bis ins Innerste durchsetzt.« 

Es sei die »Suche nach individueller psychologischer Erfüllung für den einzelnen Partner, was der postmodernen Familie ihre markante Brüchigkeit verleiht, denn sobald in der Ehe das persönliche Wachstum aufhört, ist auch die Ehe zu Ende.« Und dann: Vereinzelung und Verunsicherung, ein lähmendes »Interregnum« (so nannte man die Zeit nach dem Tod eines Herrschers bis zum Amtsantritt des nächsten) bis zur nächsten Beziehung.  

Die vielen Singles (Junge und Alte) sind unglücklich, lesen in den Medien von Krankheitssymptomen, die sie sich dann zu eigen machen, ohne dass jemand sie korrigiert. Und dann gehen sie zum Arzt und fordern eine Diagnose, die lauten müsste: zu wenig Intimität und Familienleben (was man im 19. Jahrhundert zu viel hatte). So einfach ist das (vielleicht). 

Ein Kommentar zu “Dampfkochtopf”

  1. Hans

    da möchte ich doch an das letzte Wort (vielleicht) drei Ausrufezeichen dahinter setzen!
    Bei jeder Verallgemeinerung von menschlichen Beziehungen oder Verhaltensweisen aus dem 19 Jahrhundert frage ich mich immer – ja und wie haben es die Leibeigenen gemacht? die Sklaven, die verkauften Kinder, die verheirateten Frauen – verheiratet im Sinne des verheiratet worden seins und nicht verheiratet auf Grund einer freiwilligen Entscheidung – es muss doch berücksichtigt werden, dass ein Grossteil der Bevölkerung als Leibeigene lebten – in Kalabrien noch bis 1950 und das Frauenwahlrecht wurde in der Schweiz im letzten Kanton auch erst in den 70 er Jahren eingeführt – es hört sich so schön romantisch an – Liebe – ich denke es war wie bei allen Lebewesen hormonbedingtes handeln – und beim Menschen gepaart mit Machtgelüsten. Bei einem geringen bevorzugten Bevölkerungsteil war es Romantik etc und Liebe. Vielleicht!