Paranoia

Paranoia (Verfolgungswahn) ist anscheinend eine westliche Spezialität. Jedenfalls tauchte diese psychische Krankheit in Regionen, in denen es sie vorher nie gegeben hatte, erst dann auf, als der westliche Einfluss sich breit machte. Warum ist das so?

Der englische Anthropologe M. G. Marwick, der den Stamm der Cewa in Nordrhodesien untersuchte, fand 1962 Positives zur Hexerei. Glaube an Verhexung sei eine Art, Beziehungen herzustellen in spannungsgeladenen Situationen, die durch das Gerichtswesen nicht zu klären seien. Oft geht es um Konkurrenz und um Ziele, die hohen sozialen Wert besitzen: Machtkämpfe, Verheiratung oder Besitzstreitigkeiten. (Sportliche Ziele könnte man auch nennen.)  

Durch Anschuldigungen von Hexerei würden aggressive Bestrebungen kanalisiert, und deshalb komme, schrieb Ari Kiev, es seltener zu Gewalttaten. Und die Beziehung zwischen dem Ankläger und dem angeblichen Hexer oder der Hexe sei eine ganz persönliche, intensive, bei der der ganze Mensch beteiligt sei.  

Wir haben kein solches Ventil, und Hexerei und die Verbrennung von Hexen liegt schon lange zurück. Bei uns wird ein allgemeines Angstgefühl und ein Unwohlsein gerne »internalisiert«das Gefühl, jemand wolle einem Böses, kann man ja im Arbeitsleben wunderbar bekommen, und konkret ist das auch: Es herrscht Konkurrenz, mein Kollege ist auch einer, der meinem Erfolg im Weg steht. 

Beobachtet! Foto von Helmut Krämer

 

Und Paranoia ist wohl auch eine Reaktion auf Vernachlässigung und Isolation. Wer isoliert lebt, bildet oft psychosomatische Krankheiten heraus. Und um wen sich niemand kümmert, der malt sich mitunter aus, alle kümmerten sich um einen und führten Schlimmes im Schilde. Die Autonomie des modernen Menschen hat einen Preis, und den zahlen eher die »durchlässigen«, sensiblen Menschen.  

Eine voll ausgebildete Paranoia ist ein Wahnsystem und wahnsinnig schwer zu widerlegen. Ein Vertreter der Paranoiker ist gewiss der Querulant, der allen gleich mit dem Anwalt und der Polizei kommt und alles auf sich selbst bezieht. Jedes kleinste Zeichen wird so gedeutet, dass es passt. Das sind fehlgeleitete Versuche, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erstreiten, die längst keine Gemeinschaft mehr ist.

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