Endlos

Der Wolken-Beitrag von gestern brachte mich zu dem Film Jenseits der Wolken (1995) und dem ihm zugrunde liegenden Buch Quel bowling sul Tevere, das der Regisseur Michelangelo Antonioni 1983 veröffentlichte. Es besteht aus kurzen Geschichten und Filmideen, manchmal nur einen Absatz lang, geschrieben in wunderbarem Italienisch.

1985 dann erlitt Antonioni, 73 Jahre alt, einen Schlaganfall und drehte zehn Jahre später den Wolken-Film (zusammen mit Wim Wenders). Man möchte aus seinem Buch viele Beispiele bringen, ich beschränke mich aber auf eine Passage, der die Schilderung eines Paares vorangeht, das in einem Restaurant zu Abend isst. Das Paar betrinkt sich planmäßig, geht nach draußen, und eine Stimme brüllt »Vera« und garniert den Namen mit einem Fluch. Dann fahren die beiden im Auto weg (Fahrer betrunken; na ja).

Das war der Beginn eines Films. Eigentlich war es der ganze Film. Die Handlung der eineinhalb Stunden auf das Essen zu konzentrieren, das war meine Vorstellung. In jenem Klima gespannter Euphorie. Ein Film, der einen Anfang hatte und vielleicht nicht enden würde.
Ich habe mich oft gefragt, ob es richtig ist, Geschichten immer ein Ende zu verleihen, seien es nun Texte fürs Theater oder für den Film. Einmal in sein Flussbett eingeschlossen, läuft die Geschichte Gefahr, da drinnen zu sterben, wenn man ihr nicht eine andere Dimension gibt, wenn man es nicht zulässt, dass sich seine Zeit in jenes Außerhalb verlängert,in dem wir sind, die Protagonisten aller Geschichten. Wo nichts Abschließendes ist.
›Gebt mir neue Schlüsse, – sagte einmal Tschechow, – und ich erfinde euch die Literatur neu.‹

Dazu der Gedanke Adornos, warum Musikstücke immer »versöhnlich« enden, mit einem schönen Akkord, einem braven Schluss. Auch Rocksongs enden so. Ist das nicht unnatürlich? Auch Geschichten gehen, wie man das sehen kann, immer weiter, auch wenn ein Ende »eingezogen« wird, weil die Zeit für den Film abgelaufen ist; jede Geschichte kann man weiterdenken, jedes Ende ist ein Anfang, alles fließt hypothetisch unterschwellig weiter, alle Millionen Geschichten gehen weiter und sind immer noch am Laufen, und alle unsere Schlussstriche sind Hilflosigkeit.

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